Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos

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      Igor lächelte schwach.

      »Haben Sie Geschwister?«, fragte sie.

      »Zwei Brüder. Beide sind jünger. David war Zimmermann, mein Bruder Victor ist Landwirt. Er baut Kohl an.«

      »Igor kommt von Ingvar. Ingvar bedeutet Gotteskrieger«, bemerkte Inna.

      »David ist letztes Jahr gestorben.« Igor zögerte. »Haben Sie schon mal einen Menschen verloren?«

      Inna nickte langsam.

      »Wen?«

      »Henri.«

      »Wer ist Henri?«

      »Mein Vater. Er ist vorgestern gestorben. Vorgestern Nacht. Er wurde erstochen.«

      »Was?«, fragte Igor entsetzt.

      »Deswegen sind Sie doch hier?«

      »Das glauben Sie wirklich, oder? Dass ich nicht zufällig hier bin?«

      »Mein Bruder Jenke hat Sie geschickt.«

      Igor schaute sich demonstrativ um. »Und was genau soll ich hier machen?« Er hob seine Finger zu einem Schwur. »Niemand hat mich geschickt. Auch nicht Jenke.« Er setzte sich und rutschte zur Sitzkante vor. »Wer hat Ihren Vater erstochen?«

      »Ich kann mich nicht erinnern.«

      Igor rückte seine Tasse zurecht und goss sich neuen Tee ein. »So?«

      »Welchen Auftrag haben Sie? Sollen Sie mich holen?«

      »Nein.« Er nahm einen Schluck Tee, lehnte sich zurück. »Sie haben etwas gesehen. Etwas, was Jenke vertuschen will. Ist er derjenige, der Ihren Vater erstochen hat?« Igor lachte komisch. »Das ist absurd.«

      »Sie haben ja keine Ahnung.«

      »Nein, habe ich nicht, aber ich glaube, dass Sie weggelaufen sind. Hierher, um sich vor ihm zu verstecken. Und jetzt glauben Sie, dass ich …«

      »Schon als Kind.« Sie blinzelte. »Schon als Kind bin ich weggelaufen. Vor der Angst. Aber sie findet mich immer wieder. Sie ist wie eine Gestalt, die mich verfolgt.«

      »Und vor was oder wem haben Sie Angst?« Igors Haut glitzerte. Er wischte mit dem Handrücken seine Stirn trocken.

      »Vor den Schatten. Die Burg hatte viele davon. Überall lauerten sie und haben auf mich gewartet.«

      Igor nickte. »Sie sind nicht mehr ganz dicht, oder?«

      »Ich war noch ein Kind. Kinder fühlen so etwas. Das ist ganz normal. Hatten Sie denn keine Angst? Vor dem Monster unter Ihrem Bett? Meine Monster haben sich in den Skulpturen versteckt und sie lebendig gemacht. Die gesamte Burg war voll damit. Alles war so dunkel und bedrohlich, so kalt und so schwer. Schwere dunkle Möbel, knarzendes Parkett. Bücher. Regale vollgestopft mit Büchern und dunkler, ewiger Stille. Kinder haben Angst vor Stille und vor Geistern und vor Dunkelheit.«

      »Sind Sie in einer Burg aufgewachsen?«, fragte er amüsiert.

      Inna nickte. »Ja.«

      »Ja.« Igor grunzte. »Gut. Also, in einer Burg. Hier?«

      »Nein, hier ist eine Fabrikhalle, keine Burg.«

      Igor rollte mit den Augen. »Hier in der Nähe.«

      »Ja.«

      »Die Burg Eisenfels. Am Fuße des Felsenmeers«, sagte er triumphierend. »Dort sind Sie aufgewachsen?«

      »Ja.«

      »Und vor den Gestalten oder den Schatten in dieser Burg sind Sie weggelaufen?« Er ließ seine Finger hin und her flattern. »Oder vor was auch immer?«

      »Die Schatten kamen aus den Skulpturen. Sie haben immerzu an mir gezerrt. Wenn ich von meinem Zimmer aus in den Speisesaal wollte, habe ich mich von Vorhang zu Vorhang gerettet. Ich bin ein Stück gerannt, habe mich versteckt, den richtigen Moment abgepasst.«

      »Sie hatten einen Speisesaal?« Igor lachte.

      »Haben Sie sich das so vorgestellt?«

      »Mit Bediensteten?«

      »Das Gespräch.«

      »Was?«

      »Haben Sie sich unser Gespräch so vorgestellt? Läuft es in die richtige Richtung?«

      Igor stöhnte. »Hören Sie auf damit. Das ist albern. Ich kenne Ihren Jenke nicht einmal, und mitnehmen oder irgendwo hinbringen will ich Sie auch nicht. Ich will mir nur ein wenig die Zeit vertreiben. Aber wenn Sie sich lieber nicht unterhalten wollen, lassen wir das einfach.«

      »Vielleicht will ich aber. Nur bin ich nicht sehr gut darin. Ich kann nicht sprechen. Nicht gut. Nicht so wie andere.« Sie schaute auf die Uhr. »Haben Sie Hunger?«, fragte sie.

      »Hunger!« Igor sprang auf, klatschte in seine Hände. »Warum nicht? Wir haben ja Zeit.« Er lachte schrill.

      9

      Die Luft war grau, und dicke Flocken fielen schwer vom Himmel. Ihren Schlitten durch den frischen Tiefschnee zu ziehen, war mühsam. Hier und da fand Marga Spuren von Hasen und Rehen, aber nirgendwo Hinweise auf ein abgestürztes Rentier.

      Gisela streckte neugierig ihren Kopf aus der Hütte.

      »Ich habe jetzt keine Zeit für dich«, keuchte Marga.

      Im Sommer schon. Im Sommer hatte sie Zeit. Da gab es keinen Weihnachtsmann, der verletzt im Schnee saß und gerettet werden musste. Da gab es nur die Sonne und Blumen und Gras und Insekten und ihren Hof und Wasser zum Spritzen und Mama, die Melonen rausbrachte und ihr über den Kopf streichelte, wenn sie mit ihrem Meerschweinchen dicht an Giselas Zaun saß und sich Geschichten ausdachte. Anton hatte dabei mal einen schrecklichen Sonnenbrand bekommen. Seine weißen Ohren waren knallrot geworden und hatten sich wenige Tage später gepellt. Seitdem cremte Marga sie sorgfältig mit Sonnenlotion ein.

      Sie hörte neben sich das Knacken eines abbrechenden Astes. Gewaltige Schneemassen fielen mit ihm herab, ein Eichhörnchen sprang zurück zum Stamm und lief hektisch die Baumkronen entlang, dabei löste sich immer mehr Schnee, der auf Marga herabfiel, sodass ihr Kragen bald durchnässt war und ihre Wangen vor Kälte brannten.

      Sie lief weiter, hatte die Kordel fest um ihre Hand gewickelt. Eigentlich gab es den Weihnachtsmann nicht, genauso wenig, wie es das Christkind gab oder Gott oder die Zahnfee oder den Osterhasen oder den Nikolaus. Und wenn doch? Wenn es ihn doch gab und nur keiner Lust hatte, an ihn zu glauben?

      Marga seufzte, stapfte weiter durch den tiefen Schnee. Der Weihnachtsmann lag da und schlief, hatte seine Arme und Beine weit von sich gestreckt.

      Marga beugte sich über ihn. »Du musst wach werden.«

      Erschrocken öffnete er seine Augen. »Wie lange liege ich hier?«

      »Das habe ich mich

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