Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos
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Читать онлайн книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos страница 12
»Weiter!«, forderte er sie auf.
Weiter. Es wurde noch enger, noch kälter. Dunkler.
»Hier kommen wir nie wieder raus«, hauchte Inna. »Wenn wir weitergehen, bleiben wir stecken.«
»Hosenschisserin!«
»Selber!« Sie streckte Jenke die Zunge raus, schob sich weiter durch die Felsspalte. Sie kletterten auf einen Vorsprung, tief unter ihnen eine mit Farn ausgekleidete Schlucht.
Er deutete auf die gegenüberliegende Seite. »Siehst du?«
Inna verstand nicht sofort, was Jenke ihr zeigen wollte.
»Da!« Er drehte ihren Kopf mit der Hand in die richtige Richtung, und dann entdeckte Inna ihn. Den Eingang zu einer Höhle. Ein dunkler Einstieg, verdeckt und getarnt durch Brennnesseln und Efeu, die sich kränklich durch die sonst so raue Schlucht rankten.
»Henri hat sie mir gezeigt.« Jenke schnappte aufgeregt nach Luft. »Er hat gesagt, dass uns hier niemand finden kann.«
Eine ganze Weile standen sie da. Starrten auf den engen Einstieg der Höhle.
»Und jetzt?«, fragte Inna vorsichtig.
»Jetzt gehen wir da rein.«
Inna schluckte. »Ich will da nicht rein.«
»Und warum nicht?«, stöhnte Jenke. »Wenn du nicht mitkommst, gehört alles, was ich darin finde, mir allein. Auch das Gold.«
Inna zögerte. »Du zuerst.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Was, wenn ich nicht mehr rauskomme?«, flüsterte Jenke. »Du kennst nicht einmal den Weg zurück. Du müsstest sterben. Verhungern und erfrieren und sterben!«
»Hör auf damit!«
Jenke verschränkte seine Arme und presste entschlossen seine Lippen zusammen. »Alles Gold gehört mir!«
»Vielleicht sind dort Skorpione und Spinnen.« Inna knabberte an ihrer Unterlippe. »Lass uns wieder nach Hause gehen.«
Jenke schaute sie feindselig an.
Sie roch Steine, Erde, Moos. Es begann, stärker zu nieseln. Kalter Regen, der sich wie nasser Staub auf ihre Haare legte. »Ich laufe zurück.« Inna zitterte. »Es wird dunkel.«
»Morgen. Morgen klettern wir runter.« Jenke stemmte seine Hände in die Hüften. »Und holen uns das Gold. Versprochen?«
Inna nickte zaghaft.
»Und kein Wort zu niemandem«, befahl er.
Jenke lief vor, orientierte sich an den Steinmanderln. Einmal rutschte er ab und schürfte sich seinen Knöchel auf.
»Siehst du?«, schimpfte Inna. »Nur, weil du in die Höhle willst. In der Höhle ist kein Gold! In der Höhle sind Spinnen und Kröten und Skorpione.«
»Sind Sie am nächsten Tag zurückgekehrt?«
Inna schaute auf. »Ja.«
»Und?«
»Und? Könnten Sie bitte in ganzen …«
»Bitte!« Igor presste Luft durch seine geschlossenen Lippen. »Bitte erzählen Sie weiter.«
Inna blinzelte.
*
Jenke konnte beim Frühstück kaum stillsitzen. Er ließ nervös seine Beine baumeln, stieß mit seinem Fuß ständig gegen das Stuhlbein.
»Hör auf damit!« Henri sah von seiner Zeitung auf. »Was ist mit dir, Junge?«
»Inna und ich …« Er blickte Inna eindringlich an. »Wir wollen los.«
Inna nickte unbeholfen. »Spielen.«
»Bei dem Regen?« Henri faltete seine Zeitung zusammen. »Wo wollt ihr hin?«, fragte er prüfend.
»Wissen wir noch nicht.« Jenke zuckte teilnahmslos mit den Schultern.
»Inna?« Er legte seine Finger unter Innas Kinn und hob ihren Kopf an. »Wohin?«
»Wissen wir noch nicht«, flüsterte sie.
Henri köpfte sein Frühstücksei. Mit einer einzigen schnellen Bewegung. Er ließ Jenke nicht aus den Augen, als er mit bloßen Händen in das Salztöpfchen griff und ein paar Körner auf sein Ei rieseln ließ. »So?«, fragte er. »Hast du Inna die Höhle gezeigt?«
Jenke schüttelte den Kopf.
»Das ist kein Ort zum Spielen.«
»Wissen wir.«
»Warum wart ihr dann dort?«
»Waren wir nicht«, flüsterte er.
»Wo ist Mama?«, fragte Inna.
»Das wüsste ich auch gern.« Henri leerte seinen Orangensaft in einem Zug. Seine lauten Schlucke hallten durch den Speisesaal. »Ich habe dir die Höhle gezeigt, um dich zu warnen. Das Felsenmeer ist gefährlich.«
»Weiß ich doch. Dürfen wir jetzt los? Wir gehen nur bis zum Rostbahnhof.« Jenke schob seinen Stuhl zurück. »Bitte!«, flehte er.
Henri zeigte mit dem Löffel auf Inna. »Pass auf deinen Bruder auf.« Er biss in sein Brötchen.
»Okay«, piepste Inna.
»Zum Rostbahnhof.« Er schüttelte den Kopf, schob einen Löffel mit Ei in seinen vollen Mund. »Soso.«
»Ich will zu Mama.« Inna hielt die Luft an und starrte auf ihren Teller. Tränen sammelten sich, tropften auf das Geschirr. »Kann ich zu ihr?«, fragte Inna kaum hörbar.
»Wenn sie wieder da ist.« Henri strich sich über seinen Bart, einzelne Krümel rieselten auf den Tisch. »Wenn sie wieder da ist. Und wenn sie sich auf ihre Mutterrolle besinnt. Und wenn sie nicht betrunken ist.«
Jenke sprang auf. »Können wir jetzt gehen?«
»Setz dich wieder«, befahl Henri. »Ihr geht nirgendwohin, solange das Frühstück nicht beendet ist.«
Sie saßen weitere Minuten still und mit gesenkten Köpfen am Tisch, während Henris laute Kaugeräusche den Knoten in Innas Magen weiter zuzogen.
Plötzlich öffnete sich die Tür und Mama spazierte herein. Sie trug einen Minirock und ein bauchfreies Oberteil. »Guten Morgen!«, zwitscherte sie fröhlich. Sie warf ihre Schuhe auf den Boden und tapste zu ihrem Stuhl. »Kaffee?« Sie schaute sich um. »Wo ist Edchen? Warum habe ich keinen Kaffee? Und warum sehen alle so betroffen aus?«
Inna