Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos

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fragte Mama. »Ihr seht ja aus wie bei einer Beerdigung.«

      »Hattest du eine schöne Nacht?«, fragte Henri kalt.

      »Was soll ich sonst gehabt haben?« Mama nahm sich ein Croissant. »Ich habe mit meiner Agentin gesprochen. Sie hat ein neues Angebot für mich.«

      »So?«

      »Willst du nicht wissen, welches?«

      »Nein.« Henri räumte sein Geschirr zusammen.

      »Wo ist Beeke?«

      »Mit Ede auf dem Markt«, antwortete er. »Eine gute Mutter sollte das wissen.«

      Mama lachte spöttisch. »Und ihr? Was werdet ihr heute machen? Bei dem scheußlichen Wetter? Ich …«

      »Geh!«, unterbrach Henri sie. »Los, verschwinde!«

      »Ich darf doch …«

      Henri schlug mit der Faust auf den Tisch. »Darfst du nicht! Du führst mich vor, alle wissen es. Ich will, dass du verschwindest, ich will, dass du …«

      »Aufhören!« Jenke packte Innas Arm. »Komm!«, forderte er Inna auf und zog sie vom Stuhl.

      Sie rannten bis zu den Steinleichen. Kalt, grau, nass. Der Herbst zerrte an ihren Lungen. Inna stützte sich ab, schnappte nach Luft.

      »Mama, Mama, Mama«, winselte Jenke. Er holte sich einen Stock und schlug damit in tiefhängende Äste. »Du bist doch kein Baby mehr.«

      Inna schaute ihn feindselig an.

      »Ist doch so.« Er warf den Stock ins Gebüsch. »Komm jetzt. Wir haben keine Zeit mehr.«

      Sie liefen. Entlang der Steinriesen, an ihnen vorbei, sprangen über die Schienen und durchkletterten das Felsenmeer. Innas Hände waren rot vor Kälte, tausend Nadeln stachen in ihre Haut. Jenke war getrieben, wütend, sie konnte kaum mithalten. Irgendwann gelangten sie zu der engen Felsspalte, zwängten sich hindurch, auf den Felsvorsprung, mit Blick in die Schlucht, in die tiefe Schlucht.

      »Jemand war hier«, flüsterte Jenke.

      Inna folgte seinem Blick. Jenke starrte vor sich auf den Boden.

      Regungslos, ungläubig, enttäuscht.

      Unter ihnen verteilt lagen ausgedrückte Zigarettenstummel. Einige von ihnen so zerrieben, dass der Tabak in schwarzen Bröseln wie der Schweif einer Sternschnuppe auf dem Stein klebte.

      »Lass uns verschwinden«, bettelte Inna. »Ich will nicht hier sein. Was, wenn …«

      »Nein!« Jenke baute sich vor ihr auf. »Die Höhle gehört uns. Das Gold darin gehört uns! Wir müssen sie verteidigen. Gegen …« Er zeigte auf die Zigarettenstummel. »Gegen die hier.«

      Und dann hörten sie Stimmen. Dunkle Männerstimmen und ein Geräusch, das Inna nicht zuordnen konnte.

      »Bitte«, flüsterte Inna. »Jenke, ich …«

      »Okay, verschwinden wir!«, lenkte Jenke ein.

      Sie schoben sich durch die enge Felsspalte zurück, kletterten behände durch das Felsenmeer, Inna hörte Jenke keuchen. Die Felsen waren rutschig. Sie kamen durchnässt zurück. Graupel hatte ihnen die Sicht erschwert, sie hatten lange gebraucht. Sehr lange.

      »Wo wart ihr?«, fragte Henri.

      »Spielen.«

      »Wo, Junge?« Henri schaute ihn eindringlich an.

      »Wir waren am alten Rostbahnhof. Wie immer.«

      »Nicht weiter?«

      Beide schüttelten sie mit dem Kopf. »Zug gespielt. Und Restaurant.«

      »So?« Henri hob seine Augenbrauen. »Und das bei dem Wetter. Ihr müsst verrückt sein.«

      Edchen strich ihre Schürze glatt. »Kommt, Kinder«, sagte sie und nickte Richtung Tür. »Ihr holt euch noch eine Lungenentzündung.« Sie ließ ein Bad ein. In dem heißen Wasser ertränkte Inna ihre Angst.

      »Und dann?«, fragte Igor.

      »Und dann?« Inna schloss ihre Augen. »Und dann kam wenige Tage später der Nebel.«

      Igor räumte die Teller zusammen. Er stellte sie unsanft übereinander. »Der Nebel.«

      Inna nickte.

      »Und das heißt?«, fragte er ungeduldig.

      »Gar nichts.«

      »Gar nichts?«

      »Nein.«

      »Und die Höhle?«

      »Und die Höhle? Was ist das für eine Frage?«

      »Haben Sie sich hineingetraut? Waren Sie jemals wieder dort?«

      Inna schüttelte den Kopf. »Bis zu jenem Tag.«

      *

      Sie rannten, orientierungslos. Nebel drückte sich in ihre Lungen. Kalter, schwerer Nebel. Nebel, der alles verschluckte. Nur Mamas Gesichtsausdruck nicht. Den hatte nicht einmal der Sturm davongetragen.

      »Jenke!«, rief Inna. Sie versuchte, ihm zu folgen. Er war schnell, zu schnell. Sie hatte plötzlich Angst, dass er verschwinden würde. »Warte auf mich!«, schrie sie.

      Jenke nahm ihre Hand und zog sie. Zerrte sie über das vereiste Moos und die gefrorenen Gräser, über harte Zweige und große Steine. Inna stolperte. »Weiter«, keuchte er. »Wir müssen weiter.«

      Schier endlos rannten sie durch die graue Landschaft Richtung Felsenmeer. Weiter, wir müssen weiter. Und dann rief jemand. »Kinder?« Eine Männerstimme. Inna hielt Ausschau. Zwei Männer in Wanderschuhen und ein Junge, mit Mützen und Schals und schweren Rucksäcken. Sie hielten lange Geräte in der Hand, der Junge hatte seine Augen weit aufgerissen.

      »Lauf!«, brüllte Jenke.

      »Bleibt stehen!« Der Bärtige der Männer setzte sich in Bewegung. »Du blutest ja.« Er zeigte auf Inna.

      Inna senkte ihren Kopf, starrte auf ihre Hände. Rot. Ihre Hände waren über und über mit Blut bedeckt. Jacke und Hose getränkt. Der Stoff klebte nass an ihren Beinen. Inna wurde schwindelig, aber Jenke packte sie. »Weiter!«, schrie er. Weiter. Innas Beine gehorchten. Jenke. Sie durfte Jenke nicht verlieren. Die erschrockenen Männer hatten die Verfolgung aufgegeben, vielleicht, weil die Rucksäcke zu schwer waren oder weil sie fanden, dass Inna doch keine Hilfe brauchte. Oder weil sie Kinder nicht mochten. Oder weil sie Probleme mit Kindern nicht mochten. Oder generell Probleme. Inna folgte Jenke, obwohl sie ahnte, wohin er wollte. Zur Höhle. Um sich dort zu verstecken. Vor dem Blut. Vor der Kälte. Vor der Angst. Sie tauchten in das schützende Felsenmeer, sprangen, rannten, kletterten. Zwängten sich durch die enge Spalte. Inna japste nach Luft, der kalte Nebel nahm ihr das Denkvermögen. Der Vorsprung, unter ihnen die felsige Schlucht durchmischt mit Farn, Moos, Efeu. Jenke zögerte nicht, kletterte flink hinunter. Hinunter in die Tiefe.

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