Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos страница 10
»Hör mal, Mädchen, du …«
»Marga, und du brauchst keine Angst zu haben. Ich hatte auch mal eine, das ist gar nicht schlimm. Man ruht ein paar Tage und jemand leuchtet einem in die Augen.« Sie räusperte sich. »Ich habe sogar gekotzt.«
»Und was ist passiert?«, stöhnte der Mann ungeduldig.
»Nichts. Mama hat mir meine Haare zurückgehalten und meinen Rücken gestreichelt.« Sie winkte ab. »Ich bin geritten. Letzten Sommer.«
»Scheißpferde.«
»Nein. Gisela ist ein Schwein. Ein Bentheimer Landschwein. Sie ist vom Aussterben bedroht.«
»Du bist auf einem Schwein geritten?«
»Auf Gisela, ja. Sie hat ganz viele schwarze Flecken.«
»Mit einem Sattel und Zaumzeug?«
»Und einem Einhorn.«
»Vom Schwein gefallen.« Der Weihnachtsmann tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Gisela wiegt 187 Kilo.« Marga lächelte stolz. »Ich habe sie mal gewaschen und eingeschäumt.« Sie brachte den Schlitten in Position. »Und wie soll das jetzt gehen? Du bist so dick.«
»Wie soll denn ein dünner Weihnachtsmann den riesigen Sack mit den Geschenken schleppen und die Rentiere versorgen und die Wichtel beaufsichtigen?«
»Wichtel?«, hauchte Marga.
Der Weihnachtsmann stemmte sich krächzend auf alle viere. Er verharrte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Bekommst du ein Baby?« Marga wich zurück.
Mama hatte damals geblutet und geschrien und einen roten Kopf bekommen, und als Robert aus ihrer Scheide geflutscht war, hatte Mama noch mehr geblutet und noch mehr geschrien. Marga hatte ein Handtuch besorgen und Robert darin einwickeln wollen, aber Papa war zur Haustür hereingestürmt und hatte Marga unsanft zur Seite geschubst. »Lass mich durch«, hatte er gebrüllt und sich auf Robert gestürzt, der nun nicht mehr rosig war, sondern lila. Marga hatte sich mit Anton in die Scheune verkrochen. Sie war in den Unimog geklettert und erst wieder herausgekommen, als sie am Abend Papas Stimme gehört hatte. Papa hatte ihr erklärt, dass es Robert und Mama gut ginge. Ständig war eine Frau im Haus umhergeschlichen, die nach Mama und Robert geschaut hatte. Marga hatte Bilder malen dürfen und mit der Frau über alles sprechen können, wozu Marga Lust hatte. Mama hatte immerzu auf der Couch gelegen und geweint, obwohl Robert ganz weich und warm war, gar nicht mehr lila. Marga hatte seine Milch probieren dürfen, die wässrig und süß geschmeckt und im Hals gebrannt hatte. Papa war ihr kaum von der Seite gewichen. Ständig hatte er sie besorgt angesehen und ihr über den Kopf gestreichelt, und Mama hatte in besonderem Maße fürsorglich gewirkt, weil sie ständig gefragt hatte, ob ihr warm genug sei, ob sie Hunger habe oder kuscheln wolle. Mama hatte Geschichten von neuen Babys und Familien vorgelesen, und ihr wurde ein besonderes Nachtlämpchen ans Bett gestellt.
»Mädchen?«
Marga zuckte zusammen.
»Was ist jetzt?«
Eifrig positionierte sie den Schlitten unter seine Körpermitte. Der Weihnachtsmann ließ sich herabsinken. Er stöhnte und sog geräuschvoll die Luft ein.
»Geschafft!«, rief Marga und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Ich bringe dich in die Scheune«, erklärte sie wichtig. »Da kannst du trocknen.« Sie straffte das Seil, zog, aber der Schlitten ließ sich nicht bewegen. Nicht einen Zentimeter.
Marga ließ sich in den Schnee sinken, trotzig griff sie hinein, steckte sich eine Handvoll davon in den Mund. Dann fiel ihr Gisela ein. »Natürlich!«, rief Marga laut und sprang auf. »Warte hier«, befahl sie und rannte los. Sie hörte sich keuchen, ihr Herz klopfte wild.
Jetzt würde doch alles gut werden, dachte sie, auch wenn sie den Weihnachtsmann lieber nicht retten wollte.
10
Alles schwarz.
Der Abend war schwarz. Der Sturm war schwarz.
Sie hörte ihn, er schleuderte Unmengen Schnee an die Scheiben.
Inna lehnte sich an die Anrichte. Ihr war schwindelig.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Sie winkte ab, holte einen Topf heraus.
»Ich kann Ihnen helfen«, bot er an. Er machte eine ausladende Geste in die Halle. »Ihre Berufung?«
»Eine Berufung hat für mich etwas Wohltätiges und Gemeinnütziges. Das Verspüren eines inneren Rufes zu einer bestimmten Lebensaufgabe«, antwortete Inna.
Igor nickte. »Zahlen, Tragfähigkeitsannahmen und Berechnungsmodelle.«
»Nein.«
»Dann eben nicht«, bemerkte er eingeschnappt. »Für mich ist es Holz. Mein Beruf als Schreiner. Deswegen will ich umbauen und größer werden.«
»Woher kennen Sie Grunewald?«
»Ich habe ihm eine Haustür gebaut.« Igor lächelte. »Aus einer Geschäftsbeziehung wurde Freundschaft. Wir kennen uns schon viele Jahre.«
Das Wasser im Topf begann zu sieden. Inna holte eine Packung Spaghetti aus dem Schrank. Igor war ein guter Lügner, dachte sie. Sie musste ihn bei Laune halten. Ein paar Stunden. Bis sich der Sturm gelegt hatte und sie verschwinden konnte. »Haben Sie Hobbys?«, fragte sie.
Igor lehnte sich an die Anrichte und verschränkte seine Arme. »Ich spiele Eishockey. Mit fünf Jahren habe ich angefangen.« Er zeigte seine Schneidezähne. »Den hier habe ich mal verloren«, sagte er. »Ist ersetzt worden.«
Inna wartete.
»Und ich liebe Eisstockschießen, falls Sie danach fragen wollten.« Igor überlegte. »Eigentlich mag ich alle Wintersportarten.«
Das kochende Wasser bildete große Blasen. Inna ließ den Inhalt der gesamten Packung in den Topf gleiten, rührte um.
Sie würde nichts essen können. Sie würde Igor gegenübersitzen und ihm nervös beim Kauen zusehen. Sie würde sich rechtfertigen müssen, das würde ihr schwerfallen. Am Ende würde sie sich zum Essen zwingen.
In ihrem Bauch flatterte der Sturm.
Sie schüttete das heiße Nudelwasser mitsamt den Spaghetti in ein Sieb. Der heiße Dampf stieg auf.
Wie heute Morgen.
»Soll ich übernehmen?«,