Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel
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Und doch taucht da eine Begebenheit in meinem Gedächtnis auf, die für mich zwar auch eher peinlich war, die aber dennoch eines gewissen Witzes nicht entbehrt.
Einer der Sonntagsausflüge, die meine Mutter mit uns unternahm, ehe sie auf Wohnungssuche ging, führte uns hinauf zur Wurmlinger Kapelle. Ein kleiner Friedhof, der sich mit seinen frischen Blumengestecken wie eine Art Halsschmuck um das kleine Kirchlein legte, verleitete mich zu allerlei Fragen über Kirchen, über Friedhöfe, über das Sterben und darüber, was das alles mit Religion zu tun habe. Zum ersten Mal erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, dass es zwei verschiedene Glaubensrichtungen in Deutschland gibt, hörte etwas von „katholisch“ und „evangelisch“, und zum ersten Mal nahm sich unsere Mutter Zeit, mir alle meine Fragen zu beantworten. Denn natürlich wollte ich genau wissen, worin der Unterschied zwischen „katholisch“ und „evangelisch“ bestand. Meine Mutter erklärte es mir und sie erklärte es sicher sehr gut. Doch nichts davon erinnere ich, außer der Tatsache, die mich am meisten beeindruckte, nämlich, dass den Katholiken eine Feuerbestattung verboten war, den Angehörigen der evangelischen Kirche jedoch nicht. Als ich ein paar Tage später von Herrn Lange im Rahmen einer Erhebung von Schülerdaten gefragt wurde, ob ich evangelisch oder katholisch sei und ich mich nicht mehr an die Worte erinnern konnte, sagte ich: »ich gehöre zu denen, die nach dem Tod verbrannt werden.«
4. Künzelsau
Unter der Bedingung, dass sie ihren Beruf als Lehrerin wiederaufnehmen würde – die männlichen Lehrer waren gefallen, an der Front oder in Gefangenschaft –, ergatterte unsere Mutter tatsächlich eine für damalige Verhältnisse traumhafte Unterkunft für uns: im Lehrertrakt des Schlosses von Künzelsau. Offensichtlich hatte sie es dem Bürgermeister des Ortes angetan, denn statt sie in die schon vereinbarten zwei Dachzimmer mit Kochplatte auf dem Flur zu bringen, die ihr bei ihrem ersten Besuch angeboten worden war, führte er sie bei ihrem zweiten Besuch in Künzelsau ins Schloss.
Künzelsau,
Ölbild aus dem 19. Jhdt.
Und im Schloss ging es uns gut. Meine Mutter, wir drei Kinder und die 17-jährige Toni, die ihr Arbeitsdienstjahr in unserer Familie absolvierte und die vor Heimweh nach ihrem Dorf immer wieder in Tränen ausbrach, bewohnten zu fünft drei große Zimmer. Ein Kinderschlafzimmer, das auch Toni mit uns teilte, ein Elternschlafzimmer, das meine Mutter alleine bezog, und ein großes Wohn- und Esszimmer. Die Küche und das Bad mussten wir mit einem kinderlosen Ehepaar teilen, mit Dr. Karl Helbricht und seiner Frau Gertraude. Dr. Helbricht war Mathematiklehrer in der Napolaschule7, zu der unser Lehrertrakt gehörte. Ob in weiser Voraussicht der Dinge, die da kommen würden, oder nur, weil sie die Sprache beherrschte, jedenfalls versuchte Frau Helbricht uns Kindern Englisch beizubringen, indem sie auf alle Türen und Schränke und auf jede Menge anderer Gegenstände englischsprachige Zettel klebte, die uns den korrekten Umgang mit dem jeweiligen Gegenstand vermitteln sollten. „Please flush the toilet“stand da, oder: „Please shut the door“. Mein erster englischer Satz lautete daher:
„p l e a s e sch u t te d o r“
Das ganze Schloss war rosa angestrichen, was uns damit erklärt wurde, dass Rosa die einzige Farbe gewesen sei, die es noch gab, als es nötig wurde, das Gebäude vor dem Einzug der Napola zu verputzen. Ehe dann die kleinen Jungen in Uniform kommen konnten. Angeblich die besten ihres Jahrganges. Sie sahen wie kleine Soldaten aus und gingen, mir völlig unverständlich, immer nur neben- oder hintereinander in Reih und Glied. Man sah sie nie einzeln herumrennen oder rumtoben, nur ab und zu, von einer schreienden Stimme gezwungen, über steile, extra im Schlosshof aufgestellte Holzwände klettern oder durch Schlammpfützen kriechen.
Aber die Jungen aus der Napola gingen uns nichts an, sagte meine Mutter. Und in der Tat, wir drei Kinder lebten, sofern es das Wetter irgendwie zuließ, im Park. Der Park hinter dem Schloss, früher einmal ein groß angelegter, hochherrschaftlicher Lustgarten, war völlig heruntergekommen. Aber ein wunderbarer Spielplatz. Mit seinen gefallenen Bäumen, die tiefe Löcher im Boden hinterlassen hatten, vor denen die herausgerissenen Wurzeln wie Vorhänge hingen; mit seinen Wiesen, die nie gemäht wurden und auf denen es niemanden gab, der uns hätte verjagen können, wenn wir beim Blumenpflücken das Gras niedertrampelten; und mit seinem Wäldchen, in dem man wunderbar Verstecken spielen konnte, war er ein Paradies für Kinder. Das Schönste im Park war jedoch die Ruine eines Wohnheimes, das für noch mehr Napola Schüler gebaut werden sollte, aber niemals fertiggestellt wurde, da es kein Material mehr gab, um irgendetwas zu bauen. Das steinerne Fundament dieses Phantomgebäudes war Leonies und mein Spielhaus und das Zuhause für unsere Puppen. Leonie, die bald meine beste Freundin wurde, wohnte mit ihrer Mutter im Stockwerk über uns. Auf dem Schrottplatz vor dem Schloss fanden wir Scherben in Hülle und Fülle, die wir zusammen mit locker herumliegenden Backsteinen, abgebrochenen Ästen und lehmiger Erde zum Bau einer perfekt eingerichteten Küche benutzten.
Im Park gab es so viel zu tun, sodass ein einziger Tag uns nie ausreichte. Aber Mutter hatte nichts dagegen, wenn wir den ganzen Tag draußen blieben. Auch wenn an klaren Tagen manchmal Flugzeuge Wellen von Donner über den wolkenlosen Himmel schickten. Die Flugzeuge, das wusste ich, flogen zu den großen Städten, um dort Bomben abzuwerfen. Aber hier, im Park gab es keine Gefahr. Wenn der Sommerhimmel zu donnern begann und unsere Mütter uns nicht riefen, rannten Leonie und ich mit meinen Brüdern in das Waldstück des Parks und versteckten uns in einer Wurzelhöhle. Der donnernde Himmel war wohl kein gutes Zeichen. Aber das Rennen unter die Bäume und das sich Verstecken hinter den Wurzelgardinen war aufregend. Und die silbernen Flugzeuge auf dem tintenblauen Himmel sahen aus wie Schwärme von Zugvögeln, die vorzeitig nach Süden flogen.
Die einzige Gefahr im Park war Dr. Schütz.
Dr. Schütz war der Direktor der Napola Schule. Obwohl er nicht Mamas Direktor war – Mama unterrichtete an der städtischen Oberschule – hatte Mama uns strengstens eingeschärft, Herrn Dr. Schütz niemals zu ärgern. Wenn mir Dr. Schütz im Park begegnete, musste ich strammstehen, meinen rechten Arm nach oben werfen und rufen:
»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,
selbst, wenn wir gerade dabei waren, unsere Puppen schlafen zu legen. Wenn ich einmal vergaß, Dr. Schütz zu grüßen oder ihn gar nicht gesehen hatte, wusste meine Mutter das immer und schimpfte mich abends. Mama wurde dann richtig ärgerlich. Dr. Schütz war allmächtig. Alle hatten Angst vor ihm. Ich merkte es daran, dass die Leute, wenn sie mit ihm sprachen, ihre Stimme senkten. Und niemand würde es je wagen, ihn als erster anzusprechen. Außer natürlich mit dem obligatorischen Gruß
»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,
den bei ihm niemand zu einem nachlässigen »Ha hit la!« verwischte, was sonst durchaus üblich war.
Ich konnte Herrn Dr. Schütz nicht leiden.
Schon, weil Mama Angst vor ihm hatte konnte ich ihn nicht leiden. Ich wusste nicht, warum Mama Angst vor ihm hatte. Dr. Schütz, dachte ich, musste jemand sein, der Dinge geschehen lassen konnte, die anderen Leuten nicht möglich waren und die ihnen vielleicht schaden konnten. Und Dr. Schütz war nie freundlich. Er war böse. Dr. Schütz hatte mich noch niemals angesprochen, aber ich wusste, dass er böse war.
Eines Tages im April 1945 wurde ich schon mittags von meiner Mutter ins Haus gerufen. Am Nachmittag hatten Flieger den Himmel mit nicht endendem Gedröhn zerschnitten. Sie kamen jetzt jeden Tag. Mama und Toni waren bekümmerter als je. Die Luftangriffe, von denen ich geglaubt hatte, sie gehörten nur zu den Städten, trafen nun auch uns. Immer häufiger füllten die