Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Jahrgang 1936 – weiblich - Barbara Schaeffer-Hegel

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Pflegesohn Horst einquartiert worden. Auch die Wüsters waren Flüchtlinge und hatten, wie ich später erfuhr, im Krieg zwei Söhne verloren. Der kleine Horst war ihnen zugelaufen. Sie hatten ihn im Flüchtlingstreck ohne Eltern oder sonstige Begleitperson aufgefunden und sich seiner angenommen, obwohl das Kind offensichtlich schwer gestört war. „Horstle“, wie der Bub von allen genannt wurde, war extrem scheu, stotterte, wenn er mit jemandem reden musste, und war hoch aggressiv. Er duckte sich hinter die Gartenhecke und bewarf vorüberkommende Kinder, aber auch Erwachsene, mit Dreck. Er beschimpfte meine Brüder und andere Jungen aus einem sicheren Versteck heraus mit den schlimmsten Schimpfwörtern, und wenn er eine Katze erwischte, ging es dieser schlecht. Wenn Peter oder Jochen Horstle zu fassen kriegten – was ihnen allerdings nur selten gelang –, hatte der nichts zu lachen. Es setzte Ohrfeigen und manchmal schlimme Prügel. Was Horstle dazu veranlasste, sie noch kräftiger zu beschimpfen und sie – wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot – mit allem erdenklichen Abfall zu bewerfen. Wodurch sich meine Brüder wiederum zu noch strengeren Strafaktionen genötigt sahen.

      Nur mir gegenüber war Horstle zahm. Ich war die einzige, die ihn nicht verhöhnte, ihn nicht wegen seiner groben Sprache beschimpfte, und die ihn nicht schlug. Ich hatte Mitleid mit Horstle. Dieser kleine Junge war immer allein. Er hatte keine Geschwister, seine Pflegeeltern waren schon fast im Großelternalter und in der Schule erging es ihm genauso wie bei uns auf der Straße. Kein Kind wollte etwas mit ihm zu tun haben. Ich nahm mir Zeit, um mit Horstle zu sprechen. Ich fragte ihn nach seinen Eltern, nach der Schule, versuchte ihm zu erklären, warum er den Tieren nicht weh tun dürfe und erzählte ihm Geschichten, die er nicht kannte. Horstle schien mich zu mögen; jedenfalls suchte er meine Nähe. Und ich verteidigte ihn gegen die Brüder.

      Obwohl Frau Kurtzens Haus dreigeschossig war und seinen damals zwölf Bewohnern gut Platz bot, besaß das Haus nur eine Toilette. Ein Plumpsklo auf der mittleren Treppe zwischen dem ersten und dem zweiten Stock. Das Klo bot Anlass zu mancherlei Reibereien und Auseinandersetzungen zwischen den Hausbewohnern und vor allem zwischen der Hausbesitzerin und unserer Mutter. Abgesehen davon, dass man häufig – auch wenn es dringlich war – lange anstehen musste, wurden die Reinlichkeitsstandards, die Frau Kurtz verordnet hatte, nicht immer eingehalten. Vor allem von den drei Kindern aus dem Oberstock. Was meiner Mutter regelmäßig schwere Vorwürfe einbrachte. Unsere Mutter hatte sich daher angewöhnt, wenn sie von der Schule nachhause kam, als erstes das Plumpsklo zu inspizieren.

      Und dann passierte es.

      Von einer alten Dame, einer Nachbarin, der sie als junges Mädchen mit kleinen Dienstleistungen behilflich gewesen war, hatte meine Mutter eine wunderschöne Kamee geerbt. Eine aus einer Muschel geschnitzte Mondgöttin, die in Gold gefasst und als Brosche gearbeitet war. Meine Mutter trug sie fast täglich. Als Verschluss ihrer Bluse direkt am Hals. Ohne die Kamee war die Mutter nicht zu denken. Sie gehörte zu ihr wie die Joppe zum Jäger.

      Als meine Mutter an diesem speziellen Tag nachhause kam und das Klo inspizierte, trug sie nicht nur, wie üblich, die Brosche an der Bluse, sie fand auch hinreichenden Grund, sich mit der Bürste in der einen Hand und dem Wasserkrug in der anderen über das offene Klobecken zu beugen. Mit dem Säubern kam sie allerdings nicht sehr weit. Ein Entsetzensschrei entfuhr ihrem Mund, ihre Hände flogen zum Hals. An die Stelle, an der die Kamee ihren Stammplatz hatte. Aber sie wusste ja schon, dass es zu spät war. Sie hatte die mattweiße Schönheit nach unten stürzen sehen und den dumpfen Ton gehört, als ihre Lieblingsbrosche in dem stinkenden Grab aufschlug.

      Meine Mutter stürmte hinaus, alarmierte uns Kinder und es dauerte nicht lange, da waren alle Mitbewohner, und natürlich auch Frau Kurtz, voller Schrecken und Trauer am Ort des Geschehens versammelt. Die Hausbesitzerin erkannte sofort ihre Chance. Denn die versammelte Hausgemeinschaft war sich darin einig, dass man die göttliche Dame nicht einem so trostlosen Grab überlassen dürfe. Sie musste gerettet werden. Und die kluge Alte wusste auch sofort wie. Die Güllegrube, die üblicherweise gegen eine stattliche Summe von der Stadtreinigung entleert wurde und die zum Zeitpunkt des Sturzes der Schönen schon wieder fast voll war, musste geleert werden! Eimer für Eimer müsste schön gleichmäßig auf ihrem Grundstück verteilt, die Bäume, jeder einzelne, ausreichend gedüngt werden. Und beim Ausgießen könnte man dann sorgfältig untersuchen, ob sich das verlorene Schmuckstück unter den Exkrementen befand. Also wurden alle verfügbaren Eimer zusammengetragen, die Hausbewohner bildeten eine Kette von der Grube bis zum jeweiligen Baum, den die Hausbesitzerin, die das Kommando für die Aktion übernommen hatte, angab. Herr Wüster, am Anfang der Kette, füllte die Eimer, Frau Ascherl kippte sie aus und durchsuchte das Entleerte mit einem abgeflachten Holzlöffel. Genauestens. Zentimeter für Zentimeter inspirierte sie jeden Grashalm des frisch gedüngten Rasens.

      Zwei Stunden arbeitete die Menschenkette aus Mitbewohnern rastlos und ohne Pause. Gespannt wie Goldsucher beim Schürfen, und ohne den Gestank, der sie umgab, wahrzunehmen. Und zwei Stunden lang stocherte Frau Ascherl auf der Suche nach der Göttlichen mit Akribie und scharfen Augen in der ausgekippten Scheiße. Bis die Grube leer, aber die Broschendame noch immer nicht aufgetaucht war. Entgeistert standen 12 Menschen um die leere Grube und starrten ratlos nach unten. Bis die beiden Knaben aus dem Oberstock befanden, dass jetzt einer in die Grube steigen müsse – einer, der nicht sehr füllig und nicht hochgewachsen sein dürfe, der klein und wendig genug sei, um sich in der Grube frei zu bewegen – ein Kind also! Das dann den Boden stochernd absuchen und die Dame finden müsse. Die Erwachsenen protestierten: Das sei gefährlich! In der Grube gäbe es giftige Gase. Nein, das gehe nicht! Aber die Buben gaben nicht nach. Das Goldfieber hatte sie erfasst. Beide wollten sie nach unten. Sowohl Jochen als auch Poldi bestanden darauf, dass sie der Verursacher des Unglücks gewesen seien und deswegen den Abstieg in die Hölle wagen müssten. Sodass schlussendlich gelost wurde. Poldi, der Pflegesohn, gewann. Zur Sicherheit wurde er angeseilt und mit einem großen Suppenlöffel bewaffnet in die Grube hinuntergelassen. Nach einer gefühlten Unendlichkeit fand Poldi das Schmuckstück. Unter dem Jubel der Hausgemeinschaft, die, was dringend nötig war, danach – von einem penetranten Geruch begleitet – quer durch die ganze Stadt in die öffentliche Badeanstalt marschierte.

      Künzelsau bot uns Kindern eine prächtige Spielumgebung. Im Garten, in den Gärten der Nachbarn, in den Wiesen, die am Ende unsere Straße begannen, konnten wir spielen und rennen, uns verstecken, und, da es auf der Straße keine Autos gab – jedenfalls fast keine –, war auch die Straße unser Spielplatz und wurde durch Kreide mit allerlei Mustern und Spielplänen verziert. Aber auch die Stadt selbst und die überbauten Gässchen, die der Stadtmauer entlang unter den Häusern hindurchführten, gaben exzellente Schauplätze für Versteckspiele, für „Räuber und Gendarm“, oder auch für einsame Erkundungstouren. Künzelsau war das Traumland meiner Kindheit, die endete, als ich gezwungen wurde, mein Städtchen zu verlassen. Aber das war später. Noch spielten sich wichtige und zum Teil dramatische Entwicklungen in meinem geliebten Kochertal ab.

      Die Schule in Künzelsau war ganz anders als die Schule in Tübingen. Vor allem war sie voller Überraschungen für mich. Daran, wie ich nach der Umzugspause in die erste Klasse eingeführt wurde, habe ich keine Erinnerung. Kein Lehrer, kein Schüler, kein Gesicht. Kein Vorfall, der in meinem Gedächtnis hängen geblieben wäre. Dafür anderes. Zum Beispiel, dass ich nach nur wenigen Wochen in die zweite Klasse versetzt wurde, da ich, die doch keine Tafel mit sauberen Schriftzeichen füllen konnte, den Kindern der ersten Klasse in Künzelsau angeblich weit voraus war.

      Aus der zweiten Klasse, die ich dann ebenfalls nur kurze Zeit besuchte, erinnere ich mich jedoch an einen mich sehr verwirrenden Vorfall.

      Die Schule, ein noch relativ junger Neubau, lag weit außerhalb der Stadt, am Rande eines Neubaugebietes. Neben der Schule war, ebenfalls neu, die Stadthalle gebaut worden als Ort, an dem Vorträge, Theateraufführungen, Konzerte und diverse andere Veranstaltungen stattfinden konnten. Zum Ende meines ersten Schuljahres, in dem ich also schon in der 2. Klasse saß, wurde dort die Abschlussfeier für die Untersekunda, nach heutiger Zählung die zehnte Klasse der Oberschule, gefeiert. Da die Oberschule in Künzelsau nur bis zur mittleren

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