Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel
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Wie zum Beispiel Herr Dürr, der Musiklehrer, der beim kleinsten Misston, den wir beim Chorsingen produzierten, wie eine Rakete in die Luft ging, sich lauthals über seine Schüler beschwerte – »das ist ja zum Kotzen mit euch!« – und das Fenster an der Schmalseite des Musikraums aufriss. Bis eines Tages unsere kleine, schüchterne Klassenbeste, Trudel Weigert, die niemals frech wurde, die eingetretene Todesstille mit »Jetzt kotzt er!« durchbrach, die ganze Klasse losprustete und in der letzten Stunde nachsitzen musste.
Oder Fräulein Raidt, die wir die „alte Jungfer“ nannten - ihr Verlobter wurde, wie es hieß, gleich in den ersten Kriegstagen getötet - und die außer meiner Mutter die einzige Lehrerin an der Schule war. Fräulein Raidt strafte mit Ironie und Sarkasmus und fixierte ertappte Sünder mit starrem Blick, während sie dabei die linke Augenbraue hochzog. Nur die linke. Alle wussten, dass dies ein Warnzeichen war. Ich brauchte lange, bis es mir durch tägliches Üben vor dem Spiegel gelang, die linke Braue anzuheben ohne die rechte zu bewegen – eine Fähigkeit, die ich noch heute beherrsche – und Fräulein Raidt bei ihrer nächsten visuellen Attacke gleiches mit gleichem vergelten konnte.
Aber die Lehrer waren schlimmer. Alle meine Lehrer waren gesund aus dem Krieg zurückgekommen. Alle hatten noch zwei Arme und zwei Beine und an jeder Hand fünf Finger. Der Krieg hatte sie auf andere Weise verletzt. Auf eine Weise, die nicht zu sehen war. Ich hatte keine Ahnung, wie das passiert sein konnte, aber ich spürte, dass diese Männer, meine Lehrer, abgesehen davon, dass sie Lehrer waren, was allein schon bedenklich schien, auf unerklärliche Weise beschädigt waren. Herr Faude war auch Lehrer. Aber der war ja nicht im Krieg gewesen.
Am schlimmsten war zweifellos der Biologielehrer, Herr Wieser, der auch Biologie und Chemie unterrichtete. Herr Wiesner war dick wie eine Trommel. Wenn er im Schulhaus die Treppe herunterkam, mussten sich entgegenkommende Schüler mit eingezogenem Bauch an die Wand drücken, damit er passieren konnte. Seine beiden Kinder jedoch, die auch in die Oberschule gingen, waren klein und schmächtig und erzielten bei den Untersuchungen für die Zuteilung der Schulspeisung – einer Spende des amerikanischen Expräsidenten Hoover – regelmäßig den höchsten Unterernährungsgrad. Sie waren immer unter denen, die in der großen Pause freie Mahlzeiten bekamen; einen zähflüssigen Schokoladenbrei, oder Maissuppe, oder dicke Bohnen. Als Lehrer war Herr Wiesner unerbittlich. Er unterrichtete nur im Chemiesaal, hatte also den erhöhten Experimentiertisch, der die ganze Breite des Raumes einnahm, zwischen sich und den Schülern, die ihm in sechs ansteigenden, ebenso langen Bänken gegenübersaßen. Herr Wieser saß wie ein Buddha nahezu unbeweglich auf seinem ausladenden Podest. Breit und gewichtig, die Arme abgewinkelt vor sich abgelegt, saß er in der Mitte seines langen Tisches und dozierte. Während der Schulstunde stand er niemals auf. Nie schrieb er etwas an die Tafel. Und Lehrmittel gab es keine. Kein Buch, keine kopierten Seiten, keine Materialien, kein nichts. Aber der dicke Wieser erwartete, dass sich die Schüler jedes seiner Worte merkten. Oder seine Ausführungen in rasendem Tempo mitschrieben. Er verhielt sich wie ein Professor (vielleicht war er das ja gewesen und war degradiert worden) und nahm keinerlei Rücksicht darauf, dass er nicht Studenten, sondern zwölfjährige Schüler und Schülerinnen vor sich hatte. Es war unvermeidlich, dass ich eines Tages mit ihm zusammenstoßen würde.
Wieser hatte als Hausaufgabe von jedem Schüler 50 gepresste Pflanzen mit deutschem und lateinischem Namen, Fundort und Blütezeiten verlangt. Das war viel Arbeit gewesen, aber jeder meiner 30 Mitschüler und alle Mitschülerinnen hatten am Ende der gesetzten Frist 50 Pflanzen abgegeben. Und dann kam die Klassenarbeit. Wieser saß auf seinem Hochsitz und wählte aus den 1500 Blättern, die er vor sich auf dem Tisch gestapelt hatte 30 Blätter aus, die er nacheinander hochhielt. Die Schüler sollten die Pflanze erkennen und benennen. Aufschreiben! Und bitte absolute Ruhe im Raum!
Die Klassenarbeit fiel katastrophal aus. Außer Hildegard Sues, die eine schlechte Schülerin, aber eine begeisterte Gärtnerin war, kassierten meine Mitschüler und Mitschülerinnen wie auch ich nur Vieren, Fünfen und Sechsen. Wie sollten wir auch die Pflanzen kennen, die wir nicht selber gesammelt, getrocknet und identifiziert hatten. Als Herr Wieser in der nächsten Stunde die Klasse zum Sitzen aufforderte, blieb ich stehen. Ich bat Herrn Wieser darum, diese Arbeit nicht fürs Zeugnis gelten zu lassen. Die Schüler hätten keine Chance gehabt. Keiner könne die Pflanzen der anderen kennen. Nur die eigenen. Und das wären fünfzig und nicht mehrere hundert verschiedene Gewächse. Die Klassenarbeit wäre ungerecht und dürfe daher nicht zählen, brachte ich mit ziemlich entschlossener Stimme vor. Aber Herrn Wieser wies mich barsch zurück. Es ginge ja nicht darum, nur die Pflanzen zu kennen, die man zufälligerweise getrocknet und gepresst habe. An Sonntagen, auf Spaziergängen mit den Eltern, bei jeder Gelegenheit müsse jeder Schüler nach unbekannten Pflanzen Ausschau halten und die Eltern fragen, wie sie hießen.
Ich war empört:
»Und wenn die Mutter die Pflanze selber nicht kennt! Was soll man dann machen?«
Die ganze Klasse lachte und Herr Wieser wusste keine Antwort. Er schlug mit seinen fetten Händen auf den Tisch und begann seine nächste Vorlesung.
Der absonderlichste von allen Lehrern war aber Dr. Wagner. Der „Wagges“, wie ihn die Schüler nannten. Herr Wagner war mein Lehrer für Latein und Geschichte. Wenn ich mich für Geschichte zu interessieren begann und das Fach später studierte, so verdankte ich das dem völlig unkonventionellen Unterricht von Herrn Wagner. Der „Wagges“ unterrichtete mit Leidenschaft, mit Fantasie, mit Sinn für Dramatik und mit schier endlosem Wissen. Er hielt sich an keinerlei Lehrpläne. Wenn er von einem Thema ergriffen wurde, dann erzählte er wie besessen und so, als ob er einen ganzen Saal voller Menschen begeistern müsste – mitreißend, spannend und mit vielen interessanten Einzelheiten und Anekdoten. Sein Geschichtsunterricht war wie eine Theatervorstellung. Und man konnte ihn wunderbar ablenken. Leonore Dilgers Eltern hatten eine Anzahl alter Stiche und Kopien von griechischen Statuen aus ihrem zerbombten Antiquitätenladen in Heilbronn gerettet. Als Leonore einmal ein solches Exemplar, eine kleine Kopie des Apolls von Praxitels, in die Schule mitbrachte, geriet der „Wagges“ in Verzückung. Eine ganze Stunde lang erzählte er von Griechenland – obwohl wir gerade bei der römischen Geschichte waren -, von seinen Reisen nach Athen und auf den Peloponnes, wie er den Olymp bestiegen hatte und in Santorin die weißen Stufen zur Kirche, und wie er in Mykene das Grab des Agamemnon und in Kreta den Palast von Knossos und die Zeushöhle im weißen Gebirge besucht hatte. „Wagges“ erzählte ohne Pause, bis die Schulglocke ihn rüde unterbrach.
Ich und meine Klassenkameraden nutzten seine Begeisterungsfähigkeit schamlos aus. Alle Schüler suchten zuhause nach irgendwelchen antiken Erinnerungsstücken, Scherben oder anderen Artefakten. Man brauchte solch ein kleines historisches Asservat nur gut sichtbar zu drapieren, möglichst auf die erste Bank, und der „Wagges“ geriet ins Schwärmen. Und unmerklich wechselte er manchmal die Zeiten. Dann waren es plötzlich nicht mehr römische Söldner, die in Italien kämpften, sondern deutsche Soldaten und Amerikaner und abtrünnige Italiener. Und dabei vergaß der „Wagges“, dass für diesen Tag eine lateinische Vokabelarbeit vorgesehen war.
Herr Wagner war, wie alle meine Lehrer, hochgradig jähzornig. Wenn er einen Schüler oder eine Schülerin beim Abschreiben erwischte, oder wenn er glaubte, ein Schüler lache über ihn – was ja oft vorkam, aber meist gut kaschiert wurde – brüllte