Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Jahrgang 1936 – weiblich - Barbara Schaeffer-Hegel

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unser Religionslehrer. Eine mittlere Katastrophe. Der Unterricht des Herrn Pfarrer war totlangweilig. Meist war ich die einzige in der Klasse, die seinem Unterricht folgte und seine Fragen beantwortete. Bis dem Stadtpfarrer eines Tages die Geduld riss über diese unaufmerksame und ständig schwatzende Schülerbande, die er nicht in den Griff bekam und einem Schüler eine schallende Ohrfeige verpasste. Einem Schüler, der einer der stillsten und schwächsten der Klasse war, der von den anderen häufig gehänselt und geschubst wurde und der gewiss keinen Ton von sich gegeben hatte.

      Die Schüler waren empört. Da der Klassensprecher katholisch war, gab es niemanden, der dem Herrn Pfarrer den Protest hätte überbringen können. Auch war den meisten Schülern meiner Klasse der Religionsunterricht ohnehin egal. Nur mir nicht. Es konnte nicht sein, dass ein Pfarrer einen Schüler schlug – und das noch ohne sich vergewissert zu haben, ob dieser Schüler den Unterricht wirklich gestört hatte. Ich forderte meine Mitschüler zum Boykott auf. Keiner dürfe in die nächste Religionsstunde das Gesangbuch mitbringen oder das Neue Testament. In der nächsten Religionsstunde müsse mit dem Stadtpfarrer über diesen Vorfall gesprochen werden.

      Als der Stadtpfarrer in der nächsten Religionsstunde die Klasse aufforderte, Matthäus II aufzuschlagen, begann die ganze Klasse zu kichern. Kein Schüler und keine Schülerin hatte die Bibel dabei. Aber es meldete sich auch niemand, um dem Pfarrer zu erklären, was da vor sich ging! Ich war wütend. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Da keiner meiner Mitschüler Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, stand ich schließlich selber auf und sagte dem Herrn Pfarrer, dass wir die Bücher absichtlich zuhause gelassen hätten, und dass alle in der Klasse der Meinung seien, im Religionsunterricht dürfe nicht geschlagen werden. Der Pfarrer begann sich zu rechtfertigen und wies auf den Lärmpegel in der Klasse hin. Und dass die Schüler anders nicht zu disziplinieren seien.

      »Aber beim Herr Vikar waren alle still. Sein Religionsunterricht war immer interessant. Da haben alle Schüler mitgemacht. Der Herr Vikar musste nicht schlagen! «

      Ob der Pfarrer die Stunde zu Ende führte oder das Klassenzimmer gleich nach dem Wortwechsel mit mir verließ, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass es Pfarrer Hartmann nach diesem Vorfall ablehnte, nochmals in unserer Klasse zu unterrichten. Und dass er mir ein Schuldtrauma hinterließ. Ich hatte den Pfarrer angegriffen! Ihn, der doch auch für mich hohe, wenn nicht höchste Autorität besaß. Wie hatte ich das nur tun können! Wie konnte ich das je wiedergutmachen? Tagelang schlich ich nach der Schule um das Pfarrhaus herum - bis ich mir schließlich ein Herz fasste und bei dem Pfarrer klingelte. Und mich schuldbewusst und tränenreich entschuldigte.

      Der Stadtpfarrer schätzte meinen Einsatz als „Hilfspastorin“ in der Kinderkirche. Er nahm meine Entschuldigung an. Aber für mich selbst war dieser Vorfall der Beginn eines Erosionsprozesses, der dazu führte, dass ich Jahrzehnte später aus der Kirche austrat.

      Unser Haus in der Amrichshäuser Straße stand etwa 300m oberhalb des Flusses, auf dessen jenseitiger Seite das Sportfeld lag. Die Entfernung zu dem Platz war per Luftlinien also nicht besonders weit. Der Fluss teilte sich unten bei der Badeanstalt, kurz vor dem Sportplatz. In den Kanal, der den Großteil des Wassers geradeaus zur Stadt führte und die Lohmühle speiste, und den Restfluss, der bei der Badestelle, am Anfang des Kanals, rechts über ein Wehr ablief, dann einen großen Bogen um den Sportplatz machte, um am Ende des Ortes hinter der Brücke das Kanalwasser wiederaufzunehmen. Der Alt Fluss, der meine Uferseite vom Sportplatz trennte, war flach und breit und voller Steine und führte im Sommer fast kein Wasser. Nur jetzt, im Frühjahr, war er etwas angeschwollen.

      Mit dem Fernglas, das ich trotz des Verbotes der Mutter aus dem Bücherschrank genommen hatte, konnte ich nach einiger Übung und wenn ich den Arm auf das Fensterbrett legte und ihn ganz ruhig hielt von unserer Wohnung aus ziemlich genau erkennen, wer sich da auf dem Sportplatz herumtrieb. Die beiden letzten Schulstunden waren heute ausgefallen und da hatten wir, ich selbst, mein Freund Fritz, dessen Freund Klaus und meine Freundin Hanne, vor dem Schulhaus mit den Fahrschülern, die auf ihren Zug warten mussten, verhandelt, ob man noch etwas unternehmen wolle. Das war üblich, wenn Randstunden ausfielen. Für mich waren die freien Randstunden das Schönste an der Schule. Eine ganze Stunde mit Fritz reden, spielen, raufen, oder sich im Winter eine Schneeballschlacht liefern!

      Zwar sah ich Fritz täglich in der Schule. Und manchmal sogar beim Sonntagsspaziergang, wenn seine Eltern zufällig den gleichen Spazierweg genommen hatten und uns auf ihrem Rückweg entgegenkamen. Dann hatten wir uns immer schon von weitem erspäht. Während wir uns näherkamen, hefteten sich unsere Augen aneinander, und wenn Fritz mit seinen Eltern an mir vorbeiging, klopfte mein Herz wie wild. Dass ich Fritz täglich in der Schule sah, verlieh der Schule einen beglückenden Reiz. Wenn wir nach den Schulstunden die Klassenräume wechseln mussten, konnte Fritz mir in dem lärmenden Gedrängel oft so nahekommen, dass ich sein liebevolles Anrempeln wie eine Umarmung empfand. Dabei steckte er mir manchmal kleine Geschenke zu. Wie zum Beispiel die Geo- Dreiecke aus braunem Plastik, deren Einzelteile ich noch als Studentin in meinem Federmäppchen mit mir führte, und die damals, so kurz nach dem Krieg, eine Kostbarkeit waren. Geo- Dreiecke waren, wenn man überhaupt welche bekommen konnte, aus Pappe oder aus Holz. Aber Fritzens Tante hatte einen Schreibwarenladen, und so war er an die beiden Prachtstücke gekommen, die er mir unter dem Schutz des Schülerhaufens in der Pause in die Hand schmuggelte. Oder aber er steckte mir eine Zeichnung zu. Für den Kunstunterricht oder auch eine Erdkundezeichnung. Fritz war kein guter Schüler, war aber Klassenbester in Kunst und Sport.

      Dass ich mein Abitur mit dem großen Latinum abschloss, was für meinen späteren beruflichen Werdegang nicht ganz unwichtig war, verdanke ich meiner Schülerliebe. Nach der zweiten Oberschulklasse musste ich entscheiden, ob ich Französisch oder Latein als zweite Fremdsprache nehmen wollte. Fritz hatte für Latein optiert und so stand für mich fest, dass auch ich Latein lernen würde. Und ich blieb dabei. Trotz aller Bemühungen meiner Mutter, mir klarzumachen, dass Französisch eine viel schönere Sprache sei, die mir außerdem im späteren Leben von viel größerem Nutzen sein würde, und die auch viel besser zu einem Mädchen passe. Beeindruckt von meiner Standhaftigkeit und weil mein Vater erste Anzeichen von wissenschaftlichem Ehrgeiz in seiner Tochter zu erkennen glaubte, gab die Mutter schließlich nach. Ich wurde der kleinen Gruppe der „Lateiner“ zugeordnet. Zusammen mit Fritz, der allerdings nach zwei Monaten zu den „Franzosen“ überwechseln musste, weil Latein angeblich zu schwierig für ihn war.

      An diesem speziellen Tag war ich nach der Schule unschlüssig neben Fritz bei der kleinen Schar von Schülern gestanden, die den Weg nachhause nicht angetreten hatten, bzw. ihn noch nicht antreten konnten, und überlegte mit ihnen, was man bis zur Abfahrt der Fahrschüler noch unternehmen könne. Sollte man eine Runde Fangerles spielen oder Verstecken, was in den verwinkelten Gässchen immer sehr spannend war, oder sollte man nachsehen, ob es beim Konditor Österlin schon Eis gab. Immerhin war es April und erste heiße Tage hatte es schon gegeben. Das Wetter war durchwachsen, der Himmel bewölkt. Vielleicht würde es bald regnen. Irgendwie hatte dann aber doch niemand so recht Lust auf Eis oder auf Spielen und auch ein Stadtbummel reizte nicht wirklich. Das Grüppchen beschloss, nachhause zu gehen. Die Fahrschüler würden in einem leerstehenden Klassenzimmer ihre Hausaufgaben erledigen.

      Und jetzt, etwa eine viertel Stunde später, stand ich mit dem Fernglas am Fenster unseres Wohnzimmers und versuchte herauszufinden, wer sich da auf dem Sportplatz tummelte. Mehrere Figuren waren das, vier oder fünf, die da hinter einander herrannten, jetzt auf dem Holzbalken saßen, der das Fußballfeld umgrenzte, und dann wieder zu rennen begannen. Und jetzt wieder nebeneinander auf dem Balken saßen. War es wirklich möglich, dass Fritz und Klaus ohne mich, ja sogar entgegen unserer gemeinsamen Abrede, mit den Fahrschülerinnen auf den Sportplatz gegangen waren? Und jetzt dort mit ihnen spielten?

      Meine Augen hatten sich inzwischen an das Fernglas gewöhnt. Ich konnte jetzt alles genau erkennen: Fritz war zusammen mit den beiden Ursulas auf dem Sportplatz! Ich wollte es nicht glauben. Wie konnte er nur? Ursula Veigel und Ursula Weiß hatten einen schlechten Ruf in der

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