Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Jahrgang 1936 – weiblich - Barbara Schaeffer-Hegel

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Schloss eingezogen war. Jedenfalls waren sie die ältesten Mädchen in der Klasse, mehr als ein Jahr älter als ich, und sie kannten sicher schon Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich war die jüngste in der Klasse und brannte jetzt vor Eifersucht.

      Fritz gehörte zu mir! Er hatte immer zu mir gehört und jeder in der Klasse wusste das! Fritz liebt Babsi! oder Babsi liebt Fritz! stand mindestens einmal in der Woche auf der großen Kipptafel, wenn ein Lehrer sie umdrehte, um die Hausaufgaben für die Klasse aufzuschreiben. Und die ganze Klasse kicherte. Ich konnte mich nicht erinnern, ob Fritz auch schon mit mir in der Klasse von Herrn Faude gewesen war. Aber ich wusste, dass ich ihn kannte und mochte, sehr mochte, seit ich in der Oberschule war. Und Fritz mochte mich auch. Dessen war ich mir sicher. Warum sonst die Geo-Dreiecke und die Zeichnungen und das – ich wurde rot, wenn ich daran dachte –, das verbotene Zusammentreffen unserer Füße unter der Schulbank. Wenn ich mich an die Stunden erinnerte, in denen ich direkt vor Fritz saß, in einer der langen Bänke, mit denen nur der Chemie- und der Physiksaal ausgestattet waren, dann erschauerte ich. Normalerweise saß ich weder im Chemie- noch im Physiksaal direkt vor Fritz, der seinen Platz in der dritten Jungenreihe hatte, während ich in der zweiten Mädchenreihe saß. Nur im evangelischen Religionsunterricht, den die katholischen Schüler nicht besuchten, hatte es sich ergeben, dass ich in der letzten Mädchenbank saß und Fritz in der ersten Jungensbank direkt hinter mir. Und dann spürte ich eines Tages diese unsäglich wohlige Wärme in mir aufsteigen, als meine Füße versehentlich mit Fritzens Füßen zusammenstießen. Und dann immer wieder. Nicht mehr aus Zufall, sondern weil wir beide, kaum hatte der Religionsunterricht begonnen, wie Süchtige den Kontakt unter der Bank suchten. Fast die ganze Religionsstunde über brannte sich das Sündenfeuer von meinen Füßen aufwärts in die Seele. Und ich wusste, dass das, was ich da fühlte – ausgerechnet im Religionsunterricht – eine besonders schwere Sünde war.

      Sollte das alles jetzt nicht mehr gelten? Wollte Fritz mich für eine dieser zickigen Puten aus Ingelfingen aufgeben! Konnten seine Blicke so lügen! Noch heute Morgen hatte er mich mit seinen dunklen Augen so angesehen, dass ich, wie immer, wenn sein Blick mich traf, vor Wohlgefühl zu zerschmelzen meinte. Und dass er mich als einziger Mensch in ganz Künzelsau mit meinem richtigen Namen ansprach: Barbara! Nicht Bärbel, oder Babsi, oder Babs wie alle anderen! All das sollte jetzt keine Bedeutung mehr haben! Wenn Fritz mich Barbara nannte, war das wie eine Liebkosung.

      Ich stand am Fenster und starrte hinaus. Auf dem Sportplatz bewegten sich vier kleine Pünktchen, entfernten sich voneinander, liefen auf einander zu, um dann so nahe zusammen zu stehen, dass sie in einem großen Punkt verschmolzen. Ich war alleine zuhause. Meine Mutter und die Brüder waren in der Schule und Rosel war offenbar zum Einkaufen gegangen. Ich dachte an die heimlichen Ausflüge, die ich im letzten Sommer und auch schon im Jahr davor mit Fritz gemacht hatte. Ich und meine Freundin Hanne hatten sich für eine Tagestour mit dem Fahrrad zuhause abgemeldet und das gleiche hatten Fritz und sein Freund Klaus gemacht. Vor der Stadt, da wo die Straße nach Kupferzell steil ansteigt und die katholische Kirche etwas verlassen am Berg steht, trafen wir uns, um die gemeinsame Tour zu beginnen. Fritz und ich fuhren immer nebeneinander, eskortiert vom besten Freund und von der besten Freundin, die selbst kein Pärchen waren, aber selbstverständlich gerne mitfuhren.

      Schon seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich Fahrradtouren unternommen. Natürlich nur mit der Freundin, aber da die Mutter in dieser Hinsicht großzügig war, durfte ich schon als Zwölfjährige mit der nur um ein Jahr älteren Hanne mehrere Tage unterwegs sein und in Jugendherbergen übernachten. So hatte ich in fast allen Ferien Radtouren in die nähere und weitere Umgebung unternommen und kannte alle Kirchen und Schlösser, alle berühmten Kunstschätze, Madonnenbilder und geschnitzten Altäre, alle von Fachwerkhäusern umstellten Marktplätze, die in zwei bis drei Tagesreisen Entfernung von Künzelsau zu besichtigen waren.

      Aber die Tagesausflüge mit Fritz, von denen weder seine noch meine Eltern noch auch die Eltern unserer Freunde etwas wussten, waren besonders. Natürlich waren Fritz und ich nie allein. Davon hätte ich nicht einmal geträumt. Die Innigkeit, die daraus entstand, dass wir in so großer Nähe beieinander waren, dass wir einen ganzen Tag lang alles gemeinsam machten, die Räder gemeinsam die Scherersteige hinaufschoben, um auf der anderen Seite freihändig und jubelnd nebeneinander hinunter zu sausen, das gemeinsame Picknick im Wald, die Gespräche über die Schule, die Schulkameraden und vor allem über die verrückten Lehrer, – all das war so voll betörenden Glücks, dass ich mir nichts weiter vom Leben wünschte, als dass diese Tage nie vergehen würden.

      Und jetzt spielte Fritz da unten mit den „Ursulinen“! Noch immer stand ich unbeweglich am Fenster. Aber in mir kochte es. Etwas Unbändiges, etwas, von dem ich nicht wusste, ob es Wut, Sehnsucht, Liebe, Empörung oder Hass war, etwas, das ich noch nie zuvor gefühlt hatte, überfiel mich wie ein Sturzbach. Keine Sekunde länger konnte ich das ertragen.

      Wie ich zum Fluss gekommen war, wusste ich später nicht. Mit der Starrheit einer Traumwandlerin verließ ich das Haus, bog am Ende der Straße nach rechts in den Feldweg ein, an dessen Anfang noch einige Häuser standen, der aber weiter unten in eine große Wiese mündete, an deren Ende der kanalisierte Fluss entlanglief. Und an deren rechten, dem Sportplatz zugewandten Seite das alte Flussbett verlief. Manchmal, nach starkem Regen, gab es etwas Wasser im Alt Fluss, aber trotzdem konnte man, die Schuhe in der Hand, mitsamt Kleidern und Badesachen das breite Flussbett leicht durchqueren. Jetzt war April. Im April konnte man nicht baden und ich hatte den Fluss noch niemals im April durchquert. Jetzt führte er Wasser. Ziemlich viel und ziemlich schnell fließendes Wasser. So dass auch die größeren Steine von Wasser bedeckt waren. Aber ich kannte ja die Furt, kannte jeden Stein. Von so vielen Badetagen in vielen Badesommern her kannte ich den besten Übergang. Ich zögerte keinen Moment. Ich musste auf die andere Seite. Auf der anderen Seite war der Sportplatz. Und auf dem Sportplatz waren Fritz und die Mädchen! Ich musste hinüber. Auch wenn mir das Wasser bald bis zum Knie stand und dann weiter anstieg, mein Kleid und dann meine Unterhose erreichte, und ich der stärker werdenden Strömung des Flusses kaum standhalten konnte. Ich musste hinüber. Diesen Verrat konnte ich Fritz nicht durchgehen lassen. Und den beiden Ziegen aus Ingelfingen würde ich es zeigen! Ich stolperte. Die Steine waren glitschig und das schmutzig braune Wasser machte es unmöglich, sich einen flachen Stein als Tritt auszusuchen. Mit Händen und Füßen tastete ich nach Halt, versuchte verzweifelt, der Strömung zu widerstehen und mich über Wasser zu halten. Doch ich stürzte, fiel der Länge nach in den Fluss und konnte mich, klitschnass von Kopf bis Fuß, nur mit Mühe zurück an mein eigenes Ufer retten.

      Als ich mit nassen Haaren und triefendem Kleid den Wiesenweg entlang und dann das kleine Straßenstück bis zu unserem Haus zurückging, war mir, als würde ich Spießruten laufen, obwohl kein Mensch auf der Straße war. Zornestränen liefen mir übers Gesicht. Zornestränen über mich selbst! Ich glaubte, jeder Mensch müsse mir ansehen, welch ungeheuerliche Dummheit ich da vorgehabt hatte. Auf den Sportplatz rennen, Fritz zur Rede stellen, die beiden Mitschülerinnen beschimpfen! Wie konnte ich nur! Wie schrecklich hätte ich mich blamiert, wenn der Fluss mich nicht aufgehalten hätte! Die Scham drang mir bis ins Mark.

      Zuhause angekommen wechselte ich die Kleider und schloss mich im Kinderzimmer ein. Noch waren die anderen nicht von der Schule zurück. Ich holte ein sauberes Heft aus meinem Ranzen und schrieb mit meinem lecken Füllfederhalter, der nach jedem Gebrauch Tintenflecken auf Zeige- und Mittelfinger zurückließ, mit möglichst sauberen Buchstaben folgendes Gelöbnis in mein Heft:

      »Nie mehr werde ich Fritz ansehen. Ich werde mich zur Seite drehen, wenn er mich anschaut. Nie mehr werde ich im Religionsunterricht vor ihm sitzen und ich werde niemals mehr eine Radtour mit ihm machen. Ich werde nicht mehr mit ihm spielen. Ich werde so tun, als gäbe es Fritz Weidler nicht«.

      Es fiel mir unendlich schwer, mein Gelöbnis einzuhalten und Fritzens freundlichen Attacken zu widerstehen. Fritz suchte bei jeder Gelegenheit Blickkontakt, versuchte, mir kleine Geschenke und Bücher aus den Beständen seiner Tante zuzustecken, und bei dem täglichen Klassenraumwechsel boxte er mich liebevoll. Obwohl es mir das Herz zerriss, blieb ich standhaft. Ich sah ihn nicht, redete nicht

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