Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Jahrgang 1936 – weiblich - Barbara Schaeffer-Hegel

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gekommen, war ich eines Nachmittags im Sommer, ich weiß nicht mehr warum, alleine auf dem Platz gestanden. Ganz alleine. Kein Mensch war zu sehen. Ich hatte mich mit dem Rücken an die Mauer des Schulhauses gelehnt und schaute über den Platz, auf dem die Hitze über dem geteerten Pflaster zitterte. Ich hatte noch nie solche Stille gehört. An einem Ort, der sonst immer von Schülerlärm und Kindergekreisch erdröhnte. Auch die Kindergartenkinder waren heute zuhause geblieben. Und die Vögel schwiegen. Ich sog die Stille in mich hinein. Und die Hitze. Und das tiefklare Blau des Himmels. So einzigartig, so überirdisch waren die Stille, die Hitze, und der unbegrenzte Himmel - und der Platz vor meinen Augen -, dass ich kaum zu atmen wagte. Ich bewegte mich nicht. Ich wollte mich nie mehr bewegen. Nur meine Augen tasteten jede Einzelheit ab. Den leicht vermoderten Holzzaun um den Kindergarten, die Fratzen der Wasserspeier, die den Bogen über der Kirchentüre zierten, die alten, windschiefen Häuser am Ende des Platzes und rechts daneben, gerade noch zu sehen, inmitten eines prall blühenden Gartens das Pfarrhaus. So stand ich mit dem Rücken an das alte Schulhaus gelehnt und schaute und wollte ein Leben lang nur immer dort stehen und schauen. Doch auch dieser Moment würde ja vergehen. Die Sonne würde untergehen, Leute würden zur Abendandacht kommen und ich wurde zuhause erwartet. Irgendwie musste ich diesem Moment aber Dauer verleihen. Meine Augen suchten das Pflaster vor der Kirche ab und fanden, was sie suchten. Ich legte den kleinen spitzen Stein in die Mitte des Platzes, setzte meine rechte Sandale darauf, drückte sie so stark nach unten, dass die Spitze des Steins meine Fußsohle piekte, und drehte mich mehrmals um mich selbst. Als ob ich das Steinchen in meinen Fuß einschrauben wollte. Ein leichter Schmerz nur – aber der würde diese blaue, glitzernde Sonnenstille versiegeln. Eine Ewigkeit lang. Für mein ganzes Leben.

      Mit einem Ruck wandte ich mich um und schloss das Fenster. Auf dem Flur war niemand zu sehen. Nur aus den Klassenzimmern tönten die unterschiedlichsten Geräusche. Lautstarke Lehrerstimmen, Gegröle und Gelächter von Schülern – da wurde wohl gerade eine Klassenarbeit zurückgegeben –, mehr oder weniger wohltönendes Singen, und konzentrierte, nur vom Scharren der Füße und von gelegentlichen Seufzern unterbrochene Ruhe. Das Schulhaus in Künzelsau hatte nur sieben Klassenräume für sechs Klassen. Wobei der Chemie- und der Physiksaal sowie der Musikraum mit dem Klavier für die jeweiligen Fachstunden reserviert werden mussten. Das verlangte vom Rektor, Herrn Schmidt, der den Stundenplan erstellte, ein Höchstmaß an logistischem Können und von den Schülern, dass sie praktisch nach jeder Schulstunde das Klassenzimmer wechseln mussten. Was immer ein großer Spaß, aber auch nicht ganz ungefährlich war. Knapp 200 Schüler bewegten sich mindestens fünfmal an jedem Vormittag vom oberen in den unteren Stock, oder vom unteren in den oberen, die schmale Treppe hinunter oder herauf. Und wenn dann noch Dr. Wieser vom Chemiesaal ins Lehrerzimmer musste und die Treppe blockierte war Feierabend. Ein Gestoße und Geschiebe war das, ein Lachen und Schimpfen, und manchmal genoss man es auch, dicht an einen Schüler oder eine Schülerin heran geschoben zu werden, die man mochte.

      Ich achtete genau auf die Geräusche aus den Klassenräumen, als ich von meinem Platz am Fenster leise die Treppe ansteuerte und vorsichtig, Schritt für Schritt, um Knarren zu vermeiden, die Treppe hinunter und am Lehrerzimmer vorbei ins Freie schlich. Ich hatte mich entschieden. Weder meiner Mutter noch der dummen Christiane Wechsler gönnte ich den Triumph, dass ich am Ende der Stunde als gedemütigte Sünderin wieder gnädig in die Klasse aufgenommen würde.

      Als ich gegen Ende des Krieges in Angst um meine Mutter in den Keller gerannt war und dort betete, wusste ich eigentlich nicht, was ich tat. Ich war noch nie in einer Kirche gewesen, und außer meinem Gute-Nacht-Gebet, in dem der Name Jesu vorkam, kannte ich nichts, was mit Glauben oder Religion zu tun hatte. Der Osterhase, der die Geschenke versteckte, hatte keinerlei religiöse Bedeutung und auch das Christkind nicht. Außer vielleicht das Staunen darüber, dass es das Weihnachtszimmer auf so geheimnisvolle Weise verließ, ehe wir Kinder hineindurften. Und man es daher nie zu sehen bekam. Als die Kirchen nach dem Ende des Krieges schnell damit begannen, vor allem Kinder und Jugendliche für sich zu gewinnen, begann für mich eine ganz neue Zeit. In Künzelsau waren die meisten Menschen evangelisch, wie auch die Kirche evangelisch war, die in der Mitte des Städtchens stand und deren Glocken Tag und Nacht die Zeit verkündeten. Und jetzt wieder allabendlich und am Sonntagmorgen zum Gottesdienst riefen. Bald gab es einen Mädchenkreis für die kleinen und eine Jungschar für die älteren Mädchen und ich war eine der ersten, die die neuen Angebote wahrnahmen. Einmal in der Woche traf man sich im Gemeindehaus, spielte und sang, strickte und las im Neuen Testament – und am Sonntag ging man gemeinsam in die Kinderkirche. Ich war immer in Begleitung meiner Freundin Ruth. Bis Ruths Mutter, die katholisch war und in einer sogenannten Misch-Ehe lebte, ihrer Tochter den Besuch der evangelischen Veranstaltungen verbot.

      Immer mehr Zeit verbrachte ich in Kirche und Gemeindehaus, aber erst als Schwester Paula in Künzelsau auftauchte, wurde ich wirklich fromm. Schwester Paula war eine Frau im mittleren Alter, mit dunklen Augen und graubraunem Haar, das im Nacken in einen festen Knoten gepresst war. Schwester Paula trug immer dunkle Kleidung. Als ob sie in Trauer wäre oder wie eine Büßerin, die die Sünden der Welt abzutragen hätte. Auf dem Kopf trug Schwester Paula eine kleine schwarze Haube mit schmalem weißem Rand. Offenbar das Abzeichen eines Ordens, dem sie angehörte, oder dem sie einmal angehört hatte. Schwester Paula war während des Krieges in der christlichen Mission in Afrika tätig gewesen und konnte stundenlang von armen, verhungerten Negerkindern erzählen, deren Augen strahlten, wenn sie ihnen von Jesus und seiner Liebe zu den Menschen sprach, und die sie aus den Fängen eines barbarischen Irrglaubens hatte retten können. Schwester Paula war die zuständige Gemeindeschwester, bei der ich zu Jungschar und Bibelstunde ging, und die immer größeren Einfluss auf mein Leben gewann. Sie hatte mich zu einer gläubigen Christin gemacht, und hieß mich zum Beispiel für das Seelenheil meines Onkels beten, der aus der Kirche ausgetreten war. Und später Danksagungen gen Himmel schicken, als meine Gebete erhört wurden und der Onkel wieder in die Kirche eintrat. Erst sehr viel später fiel bei mir der Groschen und ich erkannte, dass der Onkel sowohl den Austritt als auch den Wiedereintritt in die Kirche dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend und seiner Karriere zuliebe vorgenommen hatte.

      Schwester Paula lehrte mich beten und an Wunder glauben. Als ich ein verlorenes Silberarmbändchen nach intensiven Stoßgebeten zum lieben Heiland in einem der Nachbarsgärten zwischen den Kieselsteinen wiederfand, war das ein Wunder, das mir Gott hatte zuteilwerden lassen. Regelmäßig spendete ich die Hälfte meines Taschengeldes für die Mission in Afrika und übergab Schwester Paula den gesamten Geldbetrag, den ich am Samstag vor dem Muttertag als dreizehnjährige durch den Verkauf von selbst gepflückten Blumen erwirtschaftet hatte. Nach meiner Konfirmation begann ich als Kinderkirchenlehrerin die kleineren Jungen in biblischer Geschichte zu unterrichten.

      Später kamen abendliche Treffen mit Schwester Paula hinzu. Sie waren irgendwie gruselig, aber doch so voller traumseliger Nähe und überirdischer Ahnung, dass ich wie süchtig auf die wöchentlichen Sitzungen wartete. Eine kleine Gruppe ausgewählter junger Mädchen versammelte sich im hoch über der Stadt gelegenen Kirchturmzimmer. Wenn es dämmerig wurde lasen wir bei Kerzenschein, denn es gab im Turmstübchen kein elektrisches Licht. Meiner Erinnerung nach lasen wir hauptsächlich in der Offenbarung des Johannes. Ich erzitterte vor den Visionen des Jüngsten Gerichts, widersetzte mich mit den anderen Mädchen dem Antichristen und war fest davon überzeugt, dass das Ende der Welt nahe bevorstand. Schwester Paula betete und sang mit uns, erklärte uns die Gesichter des prophetischen Apostels, und wenn wir uns dann an den Händen hielten und gemeinsam das Vaterunser gebetet hatten, sagte sie uns die Formel vor, mit der wir vereint dem Satan abschworen. Wie im Rausch ging ich nachhause. Lobte Gott ewige Treue und verspürte beißende Reue darüber, dass ich den Segensspruch, der meinem Freund Fritz bei der Konfirmation zugeteilt worden war, schneller auswendig kannte als meinen eigenen.

      Bis die Sache mit dem Stadtpfarrer passierte.

      Es war in der fünften Oberschulklasse. Ich war ein Jahr vorher konfirmiert worden und unterrichtete seither Sonntag für Sonntag in der Kinderkirche. Ein vorübergehend nach Künzelsau abgeordneter Vikar hatte unsere Klasse fast ein ganzes Jahr in Religion unterrichtet. Mit seinen spannenden Erzählungen aus der biblischen

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