Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel
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Meine Mutter, die ja inzwischen wieder Lehrerin an der Oberschule war, hatte mir erzählt, dass die Abschlussfeier in der Stadthalle stattfinden würde und mich neugierig gemacht. Was machten sie bei so einer Feier? Wie sieht so ein Fest aus? Würde ich meine Mutter sehen? Das war eine allzu große Verlockung, und als ich mich zum Zeitpunkt der Veranstaltung aus der Schule raus und in den Festsaal der Stadthalle hineingeschmuggelt hatte – der Lehrerin hatte ich gesagt, ich müsse aufs Klo – war der lange viereckige Saal vor mir bis auf eine letzte leere Stuhlreihe angefüllt mit Menschen. An seinem von mir entfernten Ende bewegten sich Kinder auf einer höher gelegenen Bühne, führten kleine Stücke auf, reklamierten Gedichte, und sangen dann gemeinsam »Wer ha die Käse zum Bahnhof gerollt?« Der ganze Saal lachte. Mir wurde etwas mulmig zumute, denn meine Mutter, Frau Schweizer, das wusste ich, wurde von den Schülern „die Käse“ genannt. Aber ich wusste nicht genau, ob diese Vorführung als Huldigung oder als Verspottung meiner Mutter gedacht war.
In der letzten Reihe konnte ich mich hinstellen und das Geschehen vorne verfolgen. Aber die Feier war bald zu Ende. Wie auf Kommando erhoben sich plötzlich die Menschen im Saale, streckten den rechten Arm in die Höhe und sangen ein Lied, das ich zwar schon sehr oft gehört hatte, dessen Text ich aber nicht kannte: »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!«. Wie elektrisiert riss es auch mich vom Stuhl. Ich stand kerzengerade und mein rechter Arm flog in die Luft. Ich sang mit. Die Worte kannte ich zwar nicht, aber die Melodie: „la-la-la-la- la-la lalala…..“ . Und dann überflutete mich inmitten der brüllenden, die Hände hochreckenden Menschen ein heißer Wirbel: Stärke, Stolz, ein gewaltiges Gefühl der Verbundenheit strömte durch meine Brust, ließ mich straffer und größer werden und im Bewusstsein einer neuen Kraft sehr aufrecht in mein Klassenzimmer zurückgehen.
Doch das mich so angenehm erhebende Gemeinschaftsgefühl hatte ein ernüchterndes Nachspiel. Nach der Schule, auf dem Weg nach Hause, der sehr weit war und den ich immer noch alleine gehen musste, da ich neue Freundinnen noch nicht gefunden hatte, kam mir plötzlich ein sehr beunruhigender Gedanke: stolz darauf zu sein, eine Deutsche zu sein, mich groß und stark fühlen, weil ich in Deutschland geboren bin?! Das war doch völlig sinnlos. Wie kann man denn auf etwas stolz sein, an dem man in keiner Weise selber beteiligt, das ein reiner Zufall war. Genauso gut hätte ich irgendwo in Afrika geboren werden können, dachte ich. Zwar wusste ich nicht, wo Afrika lag, nur dass es sehr weit weg war und dass die Leute mir manchmal hinterher sangen: »Barbara, Barbara, Komm mit mir nach Afrika«. Mein Hochgefühl sackte in sich zusammen. Es gab gar keinen Grund stolz zu sein auf etwas so Zufälliges wie meine Geburt in Kassel.
Meine Schulkarriere in Künzelsau war, wie gesagt, durchaus ungewöhnlich. Nach ein paar Monaten in Klasse eins war ich etwa ein halbes Jahr später in Klasse zwei gekommen und, ebenfalls nach nur einem halben Jahr, in Klasse drei. Dann wurde wegen Kriegsende und Systemwechsel jedweder Schulunterricht eingestellt. Auch Klasse drei dauerte daher nur knappe sechs Monate und Klasse vier, die begann, nachdem sich das Leben in dem total geschlagenen Deutschland wieder einigermaßen normalisiert hatte, auch nur wenig länger. In Klasse drei kam ich mir vor wie ein armseliges Aschenputtel. Ich war die „Neue“ in der Klasse, meine Rechtschreibung war so miserabel, dass in meinem Diktatheft, das ich vergeblich vor meiner Mutter zu verstecken suchte, mehr rote als blaue Tinte zu sehen war. Außerdem wurde Klasse drei von der Tochter des Ortsgruppenleiters der NSDAP unterrichtet, einer blonden Nazischönheit, die von den Mädchen der Klasse wie eine Bienenkönigin von ihren Bienen umschwärmt wurde. Irgendwie konnte ich da nicht mithalten. Und dann passierte das Unglaubliche!! Zu Weihnachten sollte die Klasse den Eltern ein Stück vorspielen, und da ein Krippenspiel aus politischen Gründen nicht infrage kam, entschied sich die Lehrerin für „Schneewittchen“. Ich dachte gar nicht daran, mitspielen zu dürfen. Ich war die letzte Hinterbänklerin der Klasse, die Außenseiterin, der eindeutige underdog. Und außerdem war ich blond und Schneewittchens Haar war bekanntermaßen schwarz wie Ebenholz. Doch dann – ich verstand die Welt nicht mehr – wurde die blonde Bärbel Schweizer von der Nazilehrerin als Schneewittchen aufgestellt! Erst sehr viel später fand ich eine Erklärung für dieses absurde Casting: ich war das einzige Mädchen in der Klasse, das Hochdeutsch sprechen konnte!
Nach der langen Zwangspause zum Kriegsende ging die Schule für mich in der vierten Klasse weiter.
Klasse 4, mit Herrn Faude als Klassenlehrer, wurde das highlight meiner gesamten Schulzeit. Herr Faude war eigentlich gar kein richtiger Lehrer. An richtigen Lehrern fehlte es gewaltig nach dem Krieg. Daher musste man auf noch jüngere Männer zurückgreifen. Sofern sie alt genug waren und Interesse an Kindern hatten, wurden sie vor oder während ihrer Ausbildung als hauptamtliche Lehrer eingestellt. Herr Faude war jung, sah nett aus und hatte rote Haare. Und er war der beste Lehrer, den ich je erlebt habe. Wenn Herr Faude uns etwas beibringen wollte, sprach er so spannend – während er dabei durch die Bankreihen marschierte –, dass wir Schüler fasziniert an seinen Lippen hingen und ihm auf Schritt und Tritt folgten. Wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln liefen wir ihm durchs ganze Klassenzimmer nach. Ab und an drehte sich Herr Faude um, sah die Schülerschlange hinter seinem Rücken, klatschte in die Hände und forderte uns fröhlich aber entschieden auf, doch wieder unsere Plätze einzunehmen. Sein Unterricht war immer interessant und abwechslungsreich; vor allem aber überließ er uns Kindern einen beachtlichen Part darin. Wir sollten/ mussten/durften in Heimatkunde Vorträge halten, unsere eigenen Geschichten vor der Klasse erzählen oder vorlesen, und bei Mathematik oder Geometrieaufgaben ließ er uns die Lösungen an der Tafel selber finden. Herr Faude praktizierte Methoden, die zu seiner Zeit völlig ungewöhnlich waren, die jedoch später in die Didaktik und Unterrichtslehren eingingen. Und wir liebten ihn dafür. Er wohnte in einer Wohnung im Stadttor am Ende der Schnurgasse. Vor allem wir Mädchen brachten ihm dort immer wieder mal ein Ständchen dar.
Nach einem knappen Jahr in der vierten Klasse bei Herrn Faude wurde ich 1946 nach bestandener Aufnahmeprüfung in die erste Klasse der Oberschule aufgenommen. Diese Aufnahmeprüfung wurde ein richtungsweisendes Erlebnis für mich. In der schriftlichen Deutschprüfung hatte ich einen Aufsatz abgeliefert, dessen Inhalt alle Mitglieder der Prüfungskommission so beeindruckte, dass sie trotz der über 30 Schreibfehler, die ich auf vier Seiten Geschriebenem untergebracht hatte, davon absahen, mich durchfallen zu lassen. Sie bestellten mich zur mündlichen Prüfung ein. Diese mündliche Prüfung würde darüber entscheiden, ob ich zur Oberschule zugelassen würde oder nicht. Und dann geschah in dieser Prüfung etwas auch für mich völlig Unerklärliches. Obwohl ich noch niemals Grammatikunterricht gehabt hatte, wusste ich auf alle Fragen der Kommission eine Antwort. Zwar wusste ich nichts von Haupt- und Nebensätzen, Subjekt, Objekt, Satzgegenstand und Satzaussage, aber Herr Faude hatte mir im Rechenunterricht sehr gründlich selbstständiges Denken und Kombinieren beigebracht. »Warum stehen diese Teile des Satzes zwischen Kommata?« – an diese Frage und an meine Antwort kann ich mich noch heute, als 83- jährige, erinnern. Ich brachte eine perfekte Definition des „Relativsatzes“ zustande und weil ich mich wohl auch sonst bewährte, bestand ich die Prüfung. Die positive Erfahrung mit meiner ersten Prüfung wirkte sich auf alle weiteren Prüfungen aus, die ich in meinem Leben ablegen musste. In Prüfungen schien ich immer mehr zu wissen als ich vorher gewusst hatte; ich hatte nie Angst und habe Prüfungen immer glänzend bestanden.
Die Oberschule in Künzelsau war besonders. Sie war in sehr vieler Hinsicht besonders; für mich schon dadurch, dass meine Mutter an der Oberschule unterrichtete und daher auch meine Lehrerin war. In den unteren Klassen unterrichtete sie Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Englisch und Französisch. Es war ihr also nicht zu entkommen.
In welchem Fach und in welcher Klasse der folgende Vorfall passierte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es im Musikzimmer im oberen Stock war und dass ich in der ersten Bank in der Fensterreihe saß und danach vor dem Musikzimmer im Flur stand und vor Wut und Empörung kochte. Meine Mutter hatte mich aus der Klasse getrieben. Meine eigene Mutter hatte mich an den Haaren durch das gesamte Klassenzimmer geschleift, von jeder Bank losgezerrt, an der ich versuchte, mich festzuhalten, und bis zur Tür geschleppt. Sie hatte mich auf den Flur gestoßen und mit einem »da bleibst du jetzt!« die Türe mit einem Knall