Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel
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Denn jetzt gab es auch Flieger, die ganz niedrig fliegen konnten und die auf der Straße Fahrzeuge und auch Menschen beschossen. Als ich eines Tages alleine eine menschenleere Straße entlangging, um Mama von ihrer Schule abzuholen, kreiste plötzlich ein solcher Tiefflieger über meinem Kopf. Und weit und breit keine Wurzelhöhle, in der ich mich verstecken konnte. Ich war zu Tode erschrocken, öffnete das nächstgelegene Gartentor und kroch in dem fremden Garten unter einen Busch. Noch nie war ich in den Garten eines fremden Hauses eingedrungen und noch nie hatte ich mich, wie jetzt, in einem fremden Garten unter so komisch stechende Zweige gequetscht. Das Flugzeug hatte mich sicher gesehen und würde nun auf mich schießen.
Das Flugzeug kreiste eine ganze Weile über mir, als überlege es, ob es sich lohnte mich zu erschießen. Dann spritzte es eine lange Reihe walnussgroßer Löcher in das Straßenpflaster vor dem Gartentor und machte sich davon.
Von dem Tag an wusste ich was KRIEG war und hasste ihn. Der Hass wurde noch größer, als zwei Wochen später Mama und Leonies Mutter einen Großteil der Lebensmittel, die sie gehortet hatten, in zwei große Waschkörbe packten und diese zusammen mit ihren insgesamt vier Kindern in das Haus von Frau Wagner verfrachteten, die meine Mutter von irgendwoher kannte und die mit ihrem Sohn am westlichen Abhang des Tals wohnte. Wir Kinder durften jetzt das Haus nicht verlassen, denn draußen strich die Schießerei fast den ganzen Tag lang über unsere Köpfe hinweg. Auf der Höhe hinter uns, auf dem Nagelsberg, saßen die Amerikaner mit schweren Geschützen und offenbar mit sehr viel Munition. An dem Abhang auf der gegenüberliegenden Seite des Tals kam immer wieder Feuer und Rauch aus dem Wald. Mama sagte uns, dass sich deutsche Truppen dort verschanzt hätten.
Wenn das Schießen um die Mittagszeit zum Stillstand kam, ließ Mama uns einen Moment in den Garten gehen. Mit einem Feldstecher konnten wir die amerikanischen Kampfkanonen sehen, die aus den Häusern weit oberhalb unseres Hauses in die Luft starrten.
Nach etwa einer Woche waren die mitgebrachten Lebensmittel aufgebraucht. Mama und Leonis Mutter mussten einen neuen Korb holen. Im Keller des Schlosses hatten sie noch Reserven. Der Weg zum Schloss führte durch das Kochertal über den Fluss. Von dort war es bis zum hinteren Parkeingang des Schlosses nicht sehr weit. Aber unsere Mütter mussten den Fluss überqueren, über den es keine Brücke gab. Nur ein Floß. Alle Brücken im Kochertal waren von den Deutschen gesprengt worden, um dem Feind den Übertritt über den Fluss zu verwehren. Als Mama und Leonies Mutter mit ihrem gefüllten Korb vom Schloss zurückkamen, hatte jemand das Floß auf die andere Seite des Flusses gezogen. Tiefflieger waren unterwegs. Ganz offensichtlich hatten sie die beiden Frauen schon ausgemacht und schossen auf sie. Dann ließen sie etwas fallen, was als lilafarbener Nebel wie eine Giftwolke den Berg hinunterrollte und die Badehütten umhüllte, unter denen sich – mein Bruder Peter hatte das mit dem Feldstecher beobachtet –, unsere Mütter versteckt hatten. Meine Seele schoss zum Fluss hinunter, kroch in die violette Wolke und versuchte, meine Mutter herauszuziehen. Aber wenn mir das gelingen würde, würden die Tiefflieger Mama sehen und totschießen. Ich schlug die Arme um den Körper und ging in den Keller, unseren Aufenthaltsort während des Tages. Ich setzte mich auf meinen Platz und begann wie in Trance mein Nachtgebet zu beten: »Lieber Herr Jesus, segne unseren Führer und mache, dass Deutschland den Krieg gewinnt. Bitte bring uns den Frieden und lass Vati gesund nach Hause kommen.«, das einzige Gebet, das ich kannte. Die anderen Kinder folgten und so saßen wir dann alle Fünf in dem dunklen Raum und wiederholten wieder und wieder die wenigen Gebete, die wir kannten.
Meine und Leonis Mutter kamen wohlbehalten zurück und nach ein paar Tagen konnten wir heim ins Schloss. Das Schießen hatte aufgehört und ich durfte wieder nach draußen gehen. Ich spazierte durch die Stadt, um mit eigenen Augen zu sehen, was die Bomben und die Gewehre angerichtet hatten. Schamlos präsentierte das Haus einer Mitschülerin sein Innenleben: zerbrochene Tische und Stühle, Schränke und Kommoden und überall Federn, die aus zerrissenen Daunendecken über kaputte Bettgestelle flogen. Und Bilder, die schief an der Wand hingen. Die Bäckerei war in der Mitte gespalten: zwei Häuser jetzt, die auseinanderklafften. Andere waren in Berge von Backsteinen verwandelt aus denen Teile von Möbeln herausragten wie abgetrennte Arme und Beine von Menschen, die lebendig begraben worden waren. Als ich auf die Hauptstraße kam, sah ich vor der Apotheke, die kein Dach mehr hatte Herrn Dr. Schütz auf mich zukommen. Es gab keine Möglichkeit ihm auszuweichen. So marschierte ich weiter, auf Beinen, die sich wie steife Stöcke anfühlten. Als ich Dr. Schütz fast erreicht hatte, flog mein rechter Arm nach oben, die Hand weit nach vorne gestreckt. Den anderen Arm hielt ich fest gegen meine Seite gedrückt:
»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«
presste ich mit kräftiger Kinderstimme hervor. Aber dann machte Dr. Schütz, der mich noch niemals zuvor angesprochen hatte, etwas ganz Außergewöhnliches: Er trat ein paar Schritte nach vorn, beugte sich zu mir herab, ergriff meinen ausgestreckten Arm und führte ihn sanft nach unten:
»Wir grüßen jetzt nicht mehr so, Bärbelchen«,
sagte er,
»warum sagst du nicht einfach „Grüß Gott, Herr Dr. Schütz?“«.
Damit ging er weiter. Wie vom Donner gerührt blieb ich auf der Straße zurück. Nach einer Weile löste sich der Kampf in meinen Muskeln, ich schlug beide Hände vors Gesicht. Ich hatte verstanden. Der Krieg war zu Ende.
Herrn Dr. Schütz begegnete ich ein paar Jahre später wieder. Als Direktor des renommierten Stuttgarter Dillmanngymnasiums, das mein Bruder Jochen besuchte.
Nachdem wir beim Eintreffen der Amerikaner aus dem Schloss, welches sich die „Amis“ als Hauptquartier erwählt hatten, rausgeschmissen worden waren, landeten wir zunächst in einer winzigen Dachkammer in einem uralten Gasthaus in der Schnurgasse. Unser Zuhause, ein winziges Kämmerchen für vier Personen, war dunkel und eng, lag aber mitten in der Stadt, dicht neben dem Rathaus. Nach nur wenigen Wochen konnten wir jedoch in zwei Zimmer plus einer Dachkammer in die KonsulÜbele-Straße umziehen. Küche und Bad teilten wir uns mit der Hauptmieterin. Mein älterer Bruder Peter und ich mussten in der Dachkammer schlafen, in der es im Sommer brütend heiß wurde. Was uns veranlasste, nachts durch die Dachluke auf das schräge Dach zu klettern, wo mich mein Bruder anhand irgendwelcher getrockneter Blätter in die Kunst des Rauchens einführte. Auf dem Dach genossen wir ungeahnte Freiheit, fühlten uns als Herren der Welt und außerhalb jeglichen elterlichen Zugriffs. Dachten wir! Wir hatten nicht bemerkt, dass im Haus schräg gegenüber eine Frau im Rollstuhl Tag für Tag, und auch abends solange es hell war, am Fenster saß und alles beobachtete, was ihre Augen erreichen konnten. Normalerweise guckte sie auf die Straße, aber eines Abends richtete sich ihr Blick nach oben. Sie sah zwei Kinder auf einem abschüssigen Dach sitzen und bekam einen Schreikrampf. Von da an war die Dachkammer nur noch heiß und stickig, kein Fenster mehr zur Freiheit.
Die Zeit in der Konsul-Übele-Straße war auch die Zeit, in der amerikanische Soldaten in offenen LKWs durch die Straßen fuhren und den Kindern, die den Autos hinterherliefen, Kaugummis und Schokolade zuwarfen. Ein Schwarm von Kindern pflegte einem solchen Lastwagen zu folgen und manche Kinder kletterten sogar auf die Ladefläche hinauf. Ich wandte mich ab. Ich fand es abstoßend und unwürdig, dass man sich wegen ein paar Süßigkeiten vor dem „Feind“ erniedrigte. Denn Feinde waren sie doch noch immer, die amerikanischen Soldaten, oder?!
In der Konsul-Übele-Straße