Toter Kerl. Tim Herden
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Die Dämonen kamen im Morgengrauen. Langsam schlichen sie sich in seine Träume. Sie krochen durch die Windungen seines Hirns und erschienen hinter seinen geschlossenen Lidern. Er konnte sie dort stehen sehen. Sie waren durchscheinend wie Geister und trugen Gesichter, die er schon lange zu vergessen wünschte. Wenn er sich dann hin und her wälzte, um sie abzuschütteln, erwiesen sie sich als erstaunlich anhänglich. Sie schienen ihn zu rufen, auch wenn er sie nicht hören konnte. Dann sah er sich selbst zwischen ihnen. Sah sich aus einem Auto stürmen, hinein in die nahe Kirche. Er hatte Mühe, die schwere Tür aufzudrücken. Als der Spalt groß genug war für seinen schmalen Körper, hechtete er hinein. Mit einem Knall fiel die Tür wieder ins Schloss. Atemlos rannte er taumelnd zur Turmtür. Sie war nicht verschlossen. Stufe um Stufe kletterte er nach oben auf den Turm der Kirche. Plötzlich hörte er dumpf durch die dicken Mauern das Geheul eines Martinshorns. Wenig später lautes Knallen. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Meist wurde ihm jetzt der Zustand zwischen Halbschlaf und Traum unerträglich. Er schrak aus dem Bett. Die strähnigen Haare hingen ihm feucht über die Stirn. Um den Traumbildern zu entkommen, stand er auf, trat an das kleine Dachfenster. Die Pappeln vor dem Haus wiegten sich sanft im Wind. Der Bodden glitzerte im Schein des tief stehenden Mondes. Vereinzelt blinkten die Lichter der Bojen an der Fahrrinne nach Schaprode oder Wiek.
Er stieg die schmale Treppe hinab und versuchte dabei die knarrenden Holzstufen zu meiden, obwohl außer ihm niemand im Haus war. Aber er fürchtete, ein Geräusch könnte die Traumgestalten wieder zum Leben erwecken. Leise öffnete er die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Erschöpft setzte er sich an seinen Schreibtisch, zog die Lade auf und nahm einen weißen Umschlag heraus, auf dem außer seinem Namen und seiner Adresse nichts stand. Keine Briefmarke, kein Poststempel. Sie wussten also, wo sie ihn fanden. Nicht nur im Schlaf. Er nahm das weiße Stück Papier heraus mit den wenigen Worten, die er schon so oft gelesen, gesprochen, gepredigt hatte, ohne sie zu fühlen. „Da ging hin der Zwölfen einer, mit Namen Judas Ischariot, zu den Hohenpriestern und sprach: Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten. Und sie boten ihm dreißig Silberlinge.“
Die Buchstaben begannen vor seinen Augen zu tanzen. Sie fügten sich zu einem Mosaik, das ihn wieder zurück in den Kirchturm führte: das Turmfenster. Er sah sich, wie er sich an der Wand neben dem Fenster entlangdrückte, langsam den Kopf drehte und versuchte einen Blick auf den Platz vor der Kirche zu erhaschen. Er sah sich herausschauen und zurückschrecken vor den blitzenden blauen Rundumleuchten der Polizeifahrzeuge und eines Krankenwagens, auf dessen Dach ein breites rotes Kreuz prangte. Daneben sein Auto, immer noch mit der geöffneten Tür. Eine Menschenmenge wogte hin und her, mit Not zurückgehalten von Männern mit grünen Schirmmützen und in Uniform. Zwei Männer brachten eine Trage. Darauf ein Mann. Auch in Uniform. Ein Kind stürmte aus der Masse hervor, auf den Verletzten zu und wurde im letzten Moment von einem Polizisten zurückgerissen. Der Schrei des Jungen drang durch die Mauern in sein Ohr, verfing sich in seinem Gehirn.
Er ließ das weiße Blatt sinken.
I
Montagmorgen. Im Supermarkt von Vitte herrschte Chaos. In den engen Gängen zwischen den Regalen irrten neue Urlauber hin und her. Sie mussten sich erst einmal orientieren, wo sich was befand. Dabei ließen sie ihre Einkaufswagen irgendwo in einem der Gänge stehen. Nachdem sie gefunden hatten, wonach sie suchten, begann wiederum die Suche nach dem Einkaufswagen. Als besonders schwierige Fälle erwiesen sich Ehemänner, die im Urlaub ihren Frauen ein Stück Arbeit abnehmen wollten, aber wahrscheinlich seit Langem erstmals wieder Einkaufen gingen. Einerseits genossen sie die Freiheit, selbst zu entscheiden, was in den vierzehn Tagen Hiddensee-Urlaub in der Ferienwohnung auf den Tisch kommen sollte. Andererseits aber waren sie hilflos im Umgang mit Haltbarkeitsdaten, Fettanteilen und einer passenden Zusammenstellung von Lebensmitteln für Frühstück und Abendbrot. Noch schlimmer wurde es, wenn sie auch beauftragt waren, Waschpulver oder Spülmittel mitzubringen. Auf ihren Einkaufszetteln standen Markennamen, die der durchaus gut sortierte Supermarkt in Hiddensee nicht im Angebot hatte. Und so überfielen sie in verängstigtem Tonfall die Verkäuferinnen mit ihren Fragen nach Alternativen. Am Fleisch- und Wurststand konnte man beobachten, wie die Männer wahre Berge von Sülze, Rotwurst, Schinken auf die Waage legen ließen. Rieder konnte sich lebhaft vorstellen, welche Ehedramen sich bald in den Ferienwohnungen abspielen würden, wenn das Speiseangebot ausgepackt wurde. Meist war dieser erste selbstständige Einkauf für die Männer auch der letzte. Am nächsten Tag würden sie den Laden nur noch in Begleitung ihrer Frauen betreten und auch nur noch unter ihrer Anleitung einkaufen dürfen.
Rieder liebte den Supermarkt. Er war für ihn ein Stück Erinnerung an sein früheres Leben. Erst vor knapp einem halben Jahr war er auf die Insel gekommen. Zuvor hatte er in Berlin gelebt und dort in einer der Mordkommissionen des Landeskriminalamtes gearbeitet. Doch irgendwann war ihm das zu viel und zu anstrengend gewesen. Er hatte sich als Zivilbeamter nach Hiddensee versetzen lassen, um dort am Pilotprojekt „Verbrechensprävention in Ostseebädern“ der Polizeidirektion Stralsund teilzunehmen. Als Testort war Hiddensee vom Polizeidirektor Bökemüller ausgewählt worden. Als Zivilbeamter sollte Rieder den örtlichen Streifenpolizisten vor Ort durch unauffällige Präsenz in der Öffentlichkeit dabei unterstützen, mögliche Straftaten auf der Insel zu verhindern.
Rieder wusste nicht, ob er mit dem Inseldasein klarkommen würde. Immerhin war er aus einer Millionenstadt auf eine Ostseeinsel vor Rügen mit ein paar Hundert Einwohnern umgesiedelt. Gerade mal zwölf Kilometer lang und einen Kilometer breit. Und so war es ihm ganz recht, dass die Versetzung nur „auf Probe“ erfolgt und zunächst auf zwei Jahre begrenzt war. Denn Rieder war sich selbst auch noch nicht sicher, ob er auf Hiddensee würde alt werden wollen – als Polizist und als Mensch.
Der Arbeitsalltag eines Polizisten auf der Insel war überschaubar. Mal verschwand ein Fahrrad, mal gab es Streit zwischen Urlaubern in Ferienwohnungen wegen der Lärmbelästigung oder eine Anzeige wegen Mundraubs, wenn die Kirschen im Garten über Nacht verschwunden waren. Aber auch einen richtigen Mordfall hatte Rieder nur wenige Wochen nach seiner Ankunft gemeinsam mit seinem Kollegen auf der Insel schon aufgeklärt. Ein Kunsthistoriker aus Berlin war erstochen am Strand vom Gellen, der Südspitze der Insel, gefunden worden. Er hatte auf Hiddensee nach verborgenen Schätzen gesucht und war nicht ganz sauberen Geschäften nachgegangen. Bei den Ermittlungen hatte Rieder einiges über die Menschen und das Leben auf der Insel gelernt. Seitdem aber herrschte Ebbe, was die kriminalistischen Herausforderungen anging.
Am Montagmorgen war Rieder nicht nur im Supermarkt unterwegs, um sich ein paar frische Brötchen fürs Frühstück zu besorgen. Er wollte auch beobachten, wer übers Wochenende auf die Insel gekommen war. Besonders auf Jugendgruppen richtete er dabei sein Augenmerk. In den letzten Jahren war Hiddensee zu einem Surferparadies geworden. Die Inselverwaltung hatte einen Strandabschnitt zwischen Vitte und Kloster für die Windsegler reserviert, und dieser lockte immer mehr Jugendliche an. Sie brachten die Unsitte vom Festland mit, nach Sonnenuntergang am Strand eine gute Welle mit ausgiebigen lauten Trinkgelagen zu feiern. Das verärgerte Insulaner und Urlauber.
Entdeckte Rieder in der Schlange an der Kasse Jugendliche mit mehreren Bierkästen und Paletten voller Alcopops, sprach er sie gleich direkt an. Er stellte sich kurz vor, fragte nach ihren Namen, versuchte sich ihre Gesichter einzuprägen. Und er bat sie, die Regeln auf der Insel einzuhalten. Mit dieser Methode hatte er erste Erfolge. Jedenfalls landeten leere Flaschen jetzt meist in den Müllkörben auf der Strandpromenade. Auch die Beschwerden über Lärmbelästigung