Drei baltische Wege. Robert von Lucius

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Drei baltische Wege - Robert von Lucius

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Buch und Butter: Flucht in die westfälische Provinz

       Mauritiuskopf am Revers: Die Schwarzenhäupter

       Jüdische Spuren

       Vilnius – Jerusalem des Nordens

       Streit um Synagogen

       Karäer

       Langsame Heimkehr: Mark Rothko

       Blutsonntag: Jüdische Massengräber

       Künstler im Widerstand gegen Hammer und Sichel

       Sängerfeste und die Singende Revolution

       Niemals aufgeben – Jaan Kross

       Welche Sünde? – Oper als Zeichen

       Noch kein Grün – Vizma Belsevica

       Ente, antisowjetisch – Rock in Litauen

       Lasten der Vergangenheit

       Symbole und Geschichtsdeutungen

       Lettland – wachsendes Selbstbewusstsein

       Litauen – Energie als Waffe

       Estland – Grenzen und Cyberterrorismus

       Die Nachbarn

       Achse der Freiheit: Von Weißrussland bis Georgien

       Forum Neuer Demokratien

       Der Weg nach Brüssel

       Blick nach Washington

       Bildteil

       Quellenverzeichnis

       Ebenfalls erhältlich

      Kern, Schnittstelle, Brücke

      Die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen sind historisch und kulturell ein uralter Teil Kerneuropas und waren doch lange abgeschnürt. Wie kaum ein anderes Gebiet Mitteleuropas liegt das Baltikum an der Schnittstelle zwischen West und Ost, diente als Brücke für Handel und Kultur, wurde aber auch zwischen den Großmächten zerrieben. Dennoch bewahrte es ­seine innere Eigenständigkeit, der die äußere Unabhängigkeit in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts spät und kurz folgte. Nach fünf Jahrzehnten der Besetzung – kurz durch das Deutsche Reich, länger durch die Sowjetunion – sind Lettland, Litauen und Estland seit 1991 wieder frei und unabhängig.

      Wer heute erstmals nach Tallinn (Reval), Riga oder Vilnius (Wilna) kommt, wird es kaum glauben können: Vor zwei Jahrzehnten standen dort russische Panzer – Estland, Lettland und ­Litauen waren Sowjetrepubliken. Heute steht ein Designer-Laden mit den bekannten westlichen Modemarken neben dem anderen. Im Jahr 2011 war Tallinn Kulturhauptstadt Europas, zwei Jahre zuvor führte Vilnius diesen Titel. Die drei Länder erzielten in den ersten fünf Jahren nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union und zur Nato 2004 mit jeweils zwischen neun und zehn Prozent das ­höchste Wirtschaftswachstum innerhalb der EU und beklagten sich über bürokratische Regelungen aus Brüssel, die den freien Markt behindern. Ihre einfachen Steuerregeln fanden Anhänger und Neider in Westeuropa. Alle drei Länder begannen als Agrarstaaten. Sie wurden rasch Dienstleistungsgesellschaften – Estland für die Informationstechnologie, Lettland und Litauen für ­Energie und Transport. In kaum einem anderen Land der EU spielen Computer, Internet und Mobilfunk eine solch herausragende Rolle wie in Estland. Als erstes Land der Welt konnten die Bürger dort vom heimischen Computer aus über das Internet wählen statt in der Wahlkabine. Dann kam die Krise, ebenso wie zuvor der Aufschwung, stärker als anderswo. Die Esten waren die Ersten in der Region, die sie überwanden – beschleunigt durch den Anstoß, den die Euro-Einführung zum Jahresbeginn 2011 ihnen gab.

      Wirtschaftlich haben sich die drei Nachbarn der Marktwirtschaft zugewandt, auch wenn es Rückschläge gibt und viele Veränderungen nur schleppend vorankommen. Dies gilt für die Privatisierung, die ausufernde Korruption oder den Versuch, eine überalterte und träge Bürokratie und Justiz auszuwechseln mit neuem Denken, neuen Regeln und neuen Menschen. Überall sind junge Gesichter zu sehen, Menschen, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion studierten. Minister, Abteilungsleiter, Generaldirektoren, Marinebefehlshaber: Viele sind um die dreißig Jahre alt, kaum jemand ist über 40. Sie sehen sich als „Generation der Gewinner“. Anpassungsfähigkeit, rasches Handeln und hartes Arbeiten sind gefragt. So ist es kein Wunder, dass Estland zum Modell wurde (und gerne damit kokettiert), das in der Welt des Webs ideenreicher und weiter ist als die meisten „alten“ Länder der EU. Für die Boutiquen haben vorerst nur Besucher aus Russland Zeit. Diese aber geben dann so viel Geld aus, dass sich auch diese, meist leeren Luxusläden lohnen. Zumindest zum Feiern kommen junge Litauer, Letten und Esten selbst während der Woche. Restaurants und Diskos sind auch noch am frühen Morgen voll mit übermütigen „Jungen“.

      Dieser Umbruch, den wohl nur wenige Gesellschaften so nachhaltig, gründlich und behände bewältigten, hat seinen Preis – wirtschaftlich, sozial und politisch. Viele fühlen sich ausgegrenzt. Sie wurden in den neuen Staaten des aufgeblähten Wirtschaftswunders leicht vergessen, auch von der neuen Elite, weil sie nicht ständig zu sehen sind. Alte Menschen, Landbewohner, die russischsprachigen Minderheiten werden vor allem in Estland und Lettland politisch und wirtschaftlich benachteiligt. Viele kommen nicht zurecht mit dem Wandel, der mit den Stichworten Marktwirtschaft, Nato und EU sowie Jugendkult nur äußerlich umschrieben wird. Alkoholismus und Rauschgiftsucht stiegen rapide – Litauen meldete die höchste Selbstmordrate Europas, Estland die höchste Aidsrate der EU. Dazu kamen Auswüchse wie Kinderprostitution oder der Beginn mafiaähnlicher Strukturen, die sich auf benachbarte Regionen wie Nordeuropa auswirkten.

      Der

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