Drei baltische Wege. Robert von Lucius
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Litauen konnte die Wirtschaftskrise besser überstehen als Lettland und Estland. Es hatte als Einziger schon aus der Sowjetzeit eine breite industrielle Basis – der Anteil in der Industrie Beschäftigter lag bei dessen EU-Beitritt in Litauen höher als in Deutschland. Dennoch ist im Land mit den meisten Regentagen im Jahr in Europa das Gefühl der Schwermut und der Traurigkeit ausgeprägter als anderswo. Nirgends anders in der Welt ist die Selbstmordrate so hoch. Die durchschnittliche Lebenserwartung – bei Männern 61, bei Frauen 68 Jahre – ist niedriger als anderswo in Europa, und sie sinkt noch. Ein Psychiater berichtet, die Trunksucht sei stark, und sie breite sich vor allem in der Jugend aus. Dabei unterscheidet sich die Jugend in manchem von den Älteren. Sie richtet sich stärker auf westliches und eigenständiges Denken und an dessen Werten aus; ist toleranter gegenüber jenen, die anders denken oder leben; und wendet sich innerlich ab von der katholischen Kirche. Weinrestaurants ergänzen Bierkneipen, und traditionell rücksichtslose Autofahrer achten nun auf Fußgänger – sanfte Anpassungen sind überall spürbar. In der älteren Generation nahm die Unduldsamkeit, die Hetze gegen Minderheiten nach dem EU-Beitritt dagegen eher zu. Sichtbar nach außen werden aufstachelnde laute Redner, so einige populistische Abgeordnete. Andere melden sich wenig zu Wort, eher aus Resignation denn aus Feigheit3
Das geht einher mit einer Missachtung von Parteien, Politikern, dem Parlament, den Gerichten – eine Ausnahme ist nur die weit geachtete Präsidentin. Zum anderen kam, nach Jahren kreditfinanzierten Ausgabenrausches, ein Rückzug ins Private, in eine Datschen-Mentalität. Nur wenige beteiligen sich am öffentlichen Gespräch, die große Linie geht verloren. Stattdessen zieht man sich zurück ins Sommerhäuschen in den Kreis der Familie und Freunde. Die Zeit des Aufbruchs ist vorbei, als Jazz oder alternative Rockgruppen wie „Antis“ in den Jahren um die Wende 1990 herum Tausende anzogen und zum Symbol der Eigenständigkeit wurden. Basketball übernahm die Rolle des Einigenden. Wer während einer Basketballübertragung selbst auf Provinzliga in eine Kneipe kommt, wird vergeblich nach einem Gesicht suchen, das nicht den Fernsehschirm anstarrt. Eine vielleicht heilsame Erkenntnis aus der Krise ist jene, dass man als Litauer nicht (mehr) im Zentrum steht, wie so manche – beruhend auf vergangener Größe – zu glauben schienen.
Neben dem Rückzug in das Eigene und Enge gibt es eine zweite Tendenz, die Litauen seit mehr als einem Jahrhundert zu schaffen macht, die nun aber einen neuen und gefährlichen Schwung erlebt: die Auswanderung. Der Statistische Dienst der EU weist darauf hin, dass die Bevölkerung in keinem anderen Land der Union prozentual rascher sinke. Schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts war Litauen ein Auswandererland, meist gehen die Besten. Unter den großen Namen in Hollywood reichte das von Walter Matthau bis Charles Bronson, unter den Musikern vom Komponisten Aaron Copland über die Sänger Al Jolson, dem „ersten Superstar“, und Barbra Streisand bis zum Violinisten Jasha Heifetz. In klassischen Einwandererländern wie Südafrika tauchen immer wieder Nachkommen litauischer Einwanderer auf. Früher waren es häufig die Litvaks, jüdische Litauer, die bis 1940 eine starke Rolle spielten in Vilnius als „Jerusalem des Nordens“ und dem Zentrum jiddischer Geisteskultur. Heute sind es vor allem Akademiker – ein Fünftel der Bevölkerung soll seit 1990 ausgewandert sein, gesichert sind diese Zahlen nicht. Ärzte und Pflegepersonal werden umworben in Westeuropa. Die Zahl derjenigen, die Deutsch oder Englisch so lernen, dass es für eine Arbeit in Westeuropa reicht, steigt weiter. Neben dem niedrigen Lohnniveau – das Durchschnittseinkommen liegt unter dem Lettlands, die Kaufkraft indes ist höher – vertreibt sie das Gefühl, in Politik und Gesellschaft ändere sich allzu wenig, alles sei träge und schleppend. Entsprechend blutet ein relativ armes Land wie Litauen doppelt – es bezahlt die Universitätsausbildung (der Anteil akademisch Ausgebildeter in der Gesamtbevölkerung ist der zweithöchste in der EU), kann aber nicht mehr eine angemessene Gesundheitsversorgung bieten im staatlichen Sektor, in Polikliniken, obwohl da jüngst vieles in der Ausstattung verbessert und modernisiert wurde.
In der Wirtschaft beherrscht und verdrängt ein Thema alles andere, die Energie. Das gilt auch in politischen Gesprächen mit der Bundesregierung, die derzeit die „kleinen“ EU-Länder und vor allem die baltischen ernster nimmt und einbezieht als frühere deutsche Regierungen von Kohl bis Schröder. Bis zur von der EU aus Sicherheitsgründen geforderten Abschaltung der beiden Reaktoren des Kernkraftwerkes Ignalina lag der Anteil von Atomenergie am Gesamtverbrauch höher als in allen anderen EU-Ländern. Nun aber ist Litauen abhängig von Gasimporten aus Russland, und das behagt nicht. Gesprochen wird über den Bau eines neuen Kernkraftwerkes am gleichen Standort, über eine bessere Vernetzung der Strombrücke nach Westeuropa, über eine Gasverflüssigungsanlage an der Küste in Klaipeda, um andere Gaslieferanten einzubinden. Wichtig ist eine sichere und nicht überteuerte Energieversorgung nicht nur, um von Pressionen unabhängig zu werden, sondern auch für die einzelnen Haushalte. Da Wärmedämmung vernachlässigt wurde, liegt der Energieverbrauch von Litauern pro Person zwei bis dreimal so hoch wie im EU-Durchschnitt. Das gilt vor allem bei unrenovierten Plattenbauten und alten Häusern auf dem Lande. Bewohner berichten, für Heizung und Strom monatlich 500 bis 600 Euro zahlen zu müssen bei Monatseinkommen von vielleicht 800 Euro. So gibt es nur drei Möglichkeiten des wirtschaftlichen Überlebens – Schwarzmarkt, Nebenjobs und finanzielle Hilfen ausgewanderter Verwandter.
Nicht immer so besinnlich – Domplatz in Vilnius
Immer wieder sagt die Regierung zu, ihre Wirtschafts- und Energiepolitik zu ändern. Es geschieht aber wenig. Geschäftsleute beklagen „heiße Luft“. In einer Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer unter Unternehmen hält nur ein Fünftel das Regierungshandeln für zielführend und ausreichend; ein klarer und berechenbarer wirtschaftspolitischer Kurs fehle, die öffentliche Verwaltung sei ineffizient, Kriminalität und Korruption würden nur mangelhaft bekämpft.
Selten hat eine Regierung – 12 Kabinette gab es in 22 Jahren – lange genug Zeit, Grundlegendes zu ändern, Strukturreformen wie die Überschuldung der Sozialversicherung oder den Arbeitsmarkt anzugehen und umzusetzen. Anders als im bürgerlich-liberal geprägten Estland wechseln sich „linke“ und „rechte“, sozialdemokratische oder konservativ geführte Regierungen regelmäßig ab. In dem instabilen Parteiensystem gilt nur jeder Vierte als ein seiner Partei loyaler Stammwähler – in „alten Demokratien“ des Westens sind es drei Viertel. Dazwischen gab und gibt es häufiger als in den anderen beiden baltischen Ländern Populisten in der politischen Führung. Bei der Parlamentswahl Ende 2008 erhielt eine Partei von Unterhaltungskünstlern, Fernsehstars und anderen politisch Unerfahrenen auf Anhieb die meisten Stimmen und Abgeordnete in der Seimas, dem Parlament. Auch bei den beiden Parlamentswahlen davor erreichten Parteien eine hohe Stimmenzahl, die jeweils erst wenige Monate zuvor gegründet worden waren. Einmal brachte es ein Populist sogar zum Präsidenten – Rolandas Paksas wurde dann in einem Misstrauensvotum vom Parlament abgewählt, ein Novum in der Verfassungsgeschichte der EU-Länder. Verzweifelter Spaß in der Politik zu eigentlich ernster Zeit hat Tradition in Litauen. In den nachnapoleonischen Jahren, die Vilnius den nationalen, auch sprachlichen Aufbruch brachten, polnische Romantik und liberales Gedankengut (und das bislang letzte gemeinsame Vorgehen der drei verbundenen Völker der Litauer, Polen und Weißrussen), wurde die interessanteste Zeitung herausgegeben von der „Vereinigung der Tunichtgute“: Sie wollten „mit Lachen die verdorbenen Sitten bessern“.
Nicht nur der Populismus dient Daheimgebliebenen als Ventil für eine Flucht aus der Realität. Die vergangene Größe und das kulturelle Gedächtnis sind vielen Trost und Ansporn. Die Debatten um den Wiederaufbau des Palastes des Großfürsten erinnern an das Großfürstentum Litauen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert und an das Goldene Zeitalter bis 1430. Das gilt auch für zahllose Veranstaltungen zur Schlacht von Tannenberg, als Litauer und Polen vor genau 600 Jahren den Deutschen Orden zurückschlugen und so die staatliche Unabhängigkeit sicherten. Gleich drei Nationaltage hat Litauen – je einen für das Mittelalter, für die Litauische Republik der Zwischenkriegsjahre 1918 bis 1940, und für die Zeit nach 1991.