Drei baltische Wege. Robert von Lucius

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Drei baltische Wege - Robert von Lucius

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Sprache diese pflegen.

      Außenpolitisch ist Litauen eigenständiger und selbstbewusster als andere „kleine Länder“. Das zeigt sich im Bestreben innerhalb und außerhalb der EU, freiheitssuchende Länder weiter südlich bis hin nach Armenien und Georgien zu stützen, vor allem den großen Nachbarn Weißrussland. Angeregt wird das geostrategische Denken nicht zuletzt durch das benachbarte Kaliningrad (Königsberg). Russland kann seine Exklave mit Wirtschaftsgütern, Energie und Militär beliefern über litauisches Gebiet – Absprachen beider Länder werden ohne Drohgebärden eingehalten. Ihre Vereinbarung fiel leichter, weil Litauens Beziehungen zu Russland dank einer geringeren russischen Minderheit und einem entspannteren Umgang mit Russen und Weißrussen auf seinem Gebiet besser waren und sind als jene der baltischen Nachbarn zum Kreml. Dabei fiel der Verlust der früheren Provinz Litauen dem Sowjetreich weit schwerer als jener Estlands und Lettlands: Mit Litauen schwand der kürzeste Zugang zum eisfreien Meer.

      Ein stabilisierendes Element waren fast immer die Präsidenten – der Sozialdemokrat Algirdas Brazauskas, der konservative Valdas Adamkus und nun die frühere EU-Kommissarin Dalia Grybauskaitė. Gegen sie sprach bei der Wahl eigentlich alles, was sonst in der litauischen Politik gilt – sie ist eine Frau, unverheiratet, nicht kirchennah, eigenwillig und willensstark. Dennoch gilt sie als einigendes Band – vor allem, weil sie „aufräumt“. Sie drängt Minister oder Beamte, die sie als korrupt oder unfähig empfindet, durch öffentliche Kritik aus dem Amt. Alleine in ihrem ersten Amtsjahr verloren 16 Behördenleiter nach ihrem „Hinweis“ ihr Amt. Litauer lieben die eiserne Frau mit dem schwarzen Gürtel im Karate auch dafür. So überraschte nicht, dass der amerikanische Senator und frühere Präsidentschaftskandidat John McCain nach einem Treffen mit ihr in Vilnius sagte, sie habe das Format, sich um das Amt des amerikanischen Präsidenten zu bewerben. Gesetze, die unter Aufgeklärteren im Land und innerhalb der EU als zweifelhaft oder diskriminierend empfunden werden, unterzeichnet sie nicht. Ihre Worte sind klar – Vergangenheit sei Vergangenheit; oder: Jetzt gehe es ums Überleben. Dabei geht Grybauskaitė beim Bemühen, mit postsowjetischen Strukturen und Denken aufzuräumen, an die Grenze des ansonsten Präsidenten zustehenden Spielraums oder auch darüber hinaus.

      Prag oder New York sei Vilnius nicht, „aber doch ganz interessant“. Der Leiter einer Staatsbehörde, die Investitionen nach Litauen ziehen soll, hätte in anderen Ländern vielleicht seine Heimat schnittiger und forscher angepriesen. Überzeugt hätte er damit aber vermutlich weniger als der Gesprächspartner, der nicht aufschneiden will. Das ist auch nicht die Art der Litauer. Aufgeregt und patriotisch werden sie nur, wenn der dreifache Europameister im Basketball gegen die Amerikaner siegt, selten genug, oder er 2011 erstmals seit 1939 die Europameisterschaft selber wieder ausrichtete. Dann sind die sonst beschaulichen Straßen bis spät nachts von gelb-grün-rot fahnenschwingenden Jugendlichen gesäumt im vermutlich einzigen Land, das dem Nationalspiel ein sechs Meter hohes Denkmal widmet, eingeweiht 2007 vom damaligen Präsidenten. Anders als andere Nationen des östlichen Mitteleuropa brauchen Litauer nicht zu protzen, weil sie wissen, wer sie sind, und vor allem, wer sie waren: im Mittelalter das Zentrum eines litauisch-polnischen Doppelreichs, das weite Teile Mitteleuropas beherrschte. Mehr als 200 Kirchen belegten den Beinamen „Rom des Nordens“. Und bis zum Zweiten Weltkrieg auch das geistige Zentrum des liberalen osteuropäischen Judentums, das „Jerusalem des Nordens“. Aus dieser Zeit ist viel übriggeblieben, nicht nur die barocke Bausubstanz der zum Weltkulturerbe ernannten Altstadt, die einst das jüdische Ghetto umfasste, sondern auch eine Geisteshaltung. Vielleicht auch, weil man insgeheim weiß, dass man anders als Reval oder Riga nicht einst von Kolonialherren aus dem Westen gegründet und ausgebaut wurde, sondern „authentisch“ von Litauern.

      In Vilnius konzentriert sich kultureller Reichtum vom Jazz bis zur Bildhauerkunst. Letztere treibt bizarre Blüten – viele Litauer haben Sinn für das Absurde und Hintergründige – mit dem ersten Denkmal der Welt für den Rockmusiker Frank Zappa oder einem verschrotteten Stalin-Büsten gewidmeten Park. Da scheint der alte Stein noch fast unscheinbar, der einige Kilometer außerhalb von Vilnius steht an dem Ort, den das Französische Nationale Geographische Zentrum als den Mittelpunkt Europas berechnete. Vor einigen Jahren noch war er schwer zu finden, jetzt aber haben Litauer dem Fremdenverkehr ihren Tribut gezollt mit einer Säule, einer Imbissbude und mehrsprachigen Erläuterungsschildern. Darauf fehlt allerdings der Hinweis, dass auch andere Städte – etwa in der Slowakei und der Ukraine – diesen Anspruch erheben. Beispiele für dies Verspielte ist zum einen der Künstlerstadtteil Užupis, der sich zur unabhängigen Republik ernannte mit eigener Flagge und eigenem Präsidenten. Deren Verfassung legt in ihren 41 Punkten fest, jeder habe das Recht, faul zu sein oder eine Katze zu lieben. Zum anderen eben die Zappa-Statue auf einem vier Meter hohen Sockel. Zappa war der aufsässigen Halbjugend im ehemaligen Ostblock ein Vorbild, weil er sich gegen das „Establishment“ auflehnte. Dabei war der Rockmusiker nie in Vilnius, und seine angebliche Absicht, kurz vor seinem Tod hinzufahren, ist nicht belegt. Und der Bildhauer hatte sich vor seiner Zappa-Statue auf Büsten Lenins und andere Helden der Revolution konzentriert.

      Die Feiern im Jahr 2009 zur ersten Nennung des Landesnamens tausend Jahre zuvor und zeitgleich als Kulturhauptstadt Europas litten ebenso unter Geldnot wie Gedankenspiele, ein „Vilnius Guggenheim Hermitage Museum“ zu errichten und dort Sammlungen zeitgenössischer Kunst zu zeigen, auch aus der Eremitage in Sankt Petersburg und dem New Yorker Guggenheim. Vilnius ist eine Stadt der Statuen und der Kirchen. Dazu zählt der vor 200 Jahren zerstörte, 2009 zur „Jahrtausendfeier“ Litauens symbolisch wiedereröffnete „Königliche Palast“ neben dem Dom. Die Grundlage zur Unabhängigkeit legte die Schlacht bei Tannenberg und Grunwald (Zalgiris auf Litauisch) 1410 zwischen Polen, Litauen und dem Deutschen Orden – in Deutschland eine historische Fußnote, in Vilnius Anlass einer Großausstellung.

      Nicht ein Prachtbau, aber prachtvoll ist die St.-Anna-Kirche. Wie klein sie im Inneren ist – nicht einmal zwanzig Meter lang und neun Meter breit –, vermag nicht zu glauben, wer vor ihr steht: St. Anna wirkt gerade durch ihre Verspieltheit und Formenvielfalt. Weithin gilt sie als Meisterwerk spätgotischer Backsteingotik und als eine der schönsten Kirchenbauten Nordosteuropas. Als Napoleon in Vilnius war, soll er gesagt haben, er würde diese Kirche gerne auf seiner Handfläche nach Paris tragen. Ansonsten waren die Erinnerungen Napoleons an Vilnius weniger gut als die der Hauptstadtbewohner an ihn. Nach seinem Durchmarsch durch die Stadt auf dem Wege nach Moskau kam eine Phase liberaler Reformen – in der Sozialpolitik wie in der Kultur. Auf dem Rückmarsch der geschlagenen napoleonischen Armee dagegen litten Soldaten und sie begleitende Handwerker an Entbehrung, Hunger, Kälte. Erst vor wenigen Jahren wurde in einem Vorort von Vilnius entdeckt, dass dort um die 80 000 Menschen begraben wurden, eines der größten Massengräber der Napoleonzeit und wohl auch insgesamt. Mehrfach gingen von dieser Kirche historische Impulse aus, etwa die Reformation in Litauen oder 1987 die ersten Bewegungen zur neuerlichen Unabhängigkeit Litauens. Erstmals schriftlich erwähnt wurde St. Anna 1501 in einer Bulle Papst Alexanders VI. 33 eigens gebrannte Backsteinformen wählte der Baumeister, der später in Warschau, Danzig und Königsberg tätig war, vor fünf Jahrhunderten. Geschwungene hochstrebende Ziertürme, Erker und die hohen Fenster geben St. Anna eine seltene Leichtigkeit, einer der Höhepunkte im Stadtkern, den nicht nur die Touristenwerbung als „größte zusammenhängende und besterhaltene Altstadt Europas“ rühmt.

      Vilnius ist multinational und multikulturell – 57 Prozent der gut eine halbe Million Bewohner sind Litauer, jeder Fünfte ist Pole. Russen stellen 14, Weißrussen vier Prozent – Deutsche gibt es wenige. Vorbehalte gegen Deutsche gibt es nicht, trotz der Jahre nationalsozialistischer Besetzung, als innerhalb von zwei Jahren viele Zehntausend Menschen, 90 Prozent der jüdischen Bewohner, und ein Teil des geistigen Erbes ausgelöscht wurden. Viele sprechen noch Deutsch, vor allem nahe der Ostsee und an den Grenzen zum alten Ostpreußen. In Vilnius gibt es eine deutschsprachige Online-Zeitung, einen deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst und gleich mehrere deutschsprachige Stammtische, zudem die Deutsch-Baltische Handelskammer und das Goethe-Institut. In der Buchhandlung im Innenhof der traditionsreichen Universität stehen viele Dutzend ins Litauische übersetzte

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