Drei baltische Wege. Robert von Lucius
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Zu den Eigentümlichkeiten jener, die in Litauen blieben, zählen Schwermut in der Poesie und der Versuch, mit doppeldeutigen Formulierungen und Andeutungen die Zensur zu überlisten. Über die Geschichte des Widerstands gibt es in den Jahren der Freiheit in Litauen noch kein bedeutendes literarisches Werk, auch große historische Themen fehlen in der zeitgenössischen Romanliteratur. Die beste Einsicht in die polnisch-litauische Geistesgeschichte und Mentalität ist beim in Litauen geborenen polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zu finden, nicht bei litauischen Poeten. Viele wichen auf Kinderliteratur aus. In den letzten beiden Jahrzehnten erlebte die Literatur einen neuen Aufschwung, begünstigt durch die wiedererlangte Freiheit, das Wegfallen der Zensur, das Entstehen eines privaten Verlagswesens, den unbehinderten Austausch mit den Ideen des Westens und schließlich durch die Rückkehr vieler Exildichter.
Sichtbar wurde dieser Austausch in einer rasanten Zunahme an Übersetzungen ausländischer Literatur ins Litauische, vor allem aus dem Deutschen. Der alte Buchladen im Innenhof der Universität in Vilnius lässt staunen: nicht nur wegen seiner historischen Ausstattung und Bemalung, sondern auch wegen der Bücher auf den Verkaufsregalen. Meter über Meter vertraute deutsche Autoren, übersetzt ins Litauische. Kaum ein Werk der Klassik oder der klassischen Moderne scheint zu fehlen, aber auch Karl Mays „Sohn des Bärenjägers“, Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ und Erich Kästners „Fliegendes Klassenzimmer“ stehen dort. Kästner war wie Erich Maria Remarque oder Hermann Hesse schon vorher Bestseller. Nun kamen jüngere Autoren dazu. Vor einiger Zeit erschienen Übersetzungen von Robert Walser und Patrick Süskind, Bernhard Schlink und Michael Krüger. In der Nationalbibliothek gibt es einen Herder-Lesesaal mit deutschen Übersetzungen. Das Goethe-Institut in Vilnius und die Klassik Stiftung Weimar halfen bei einer Neuübersetzung und Aufführung des „Faust“. Selbst Eckermanns Gespräche mit Goethe sind auf Litauisch erschienen.
Dies starke Interesse in Litauen an deutscher Literatur, vielfach größer als in Estland, das kulturell und historisch Deutschland näher ist, beruht vielleicht auf der Grenznähe zum alten Ostpreußen, oder auch darauf, dass Litauen anders als Lettland schon früh einen Lehrstuhl für Übersetzer einrichtete. Die deutschsprachige Baltistik hat eine lange Tradition, und sie hat sich auf das Litauische konzentriert, weit stärker als auf das Lettische oder das ausgestorbene Altpreußische. Ihr Schwerpunkt liegt aber auf der Linguistik statt auf der Literaturwissenschaft. Es scheint in Litauen mehr Jahrbücher, wissenschaftliche Zeitschriften und Studienreihen zur Linguistik zu geben denn zur Politik oder Wirtschaft, und fast jede enthält einen deutschsprachigen Text oder zumindest eine übersetzte Kurzfassung. Verwunderlich ist daher das Fehlen eines großen aktuellen deutsch-litauischen Wörterbuchs. Dabei gab es schon vor mehr als 300 Jahren dazu Vorarbeiten: Ende der Neunziger erschien in Vilnius eine vierbändige Faksimileausgabe eines wohl 1680 entstandenen, 1945 in Ostpreußen entdeckten handschriftlichen deutsch-litauischen Wörterbuches, etwa 2 500 Seiten stark.
Umso ernüchternder ist, trotz leichter Zunahme, das geringe Interesse an litauischer Literatur in Deutschland. Der wohl bedeutendste literarische Verlag Litauens, Baltos Lankos, publizierte zweisprachige Gedichtbände von Aldona Gustas, die seit 1945 in Berlin lebt – „mit Taschen voller Wortkram / In litauischen und deutschen Lauten / denke ich was später / auf der Zunge schmilzt / im Ohr stirbt“ –, und von Sigitas Geda, einem der wichtigsten Vertreter moderner litauischer Lyrik. Bei Baltos Lankos erscheinen auch Venclova und Mekas. Viele schöne Briefe habe es nach der Frankfurter Buchmesse an den Sondergast gegeben – aber mehr auch nicht, so die Koordinatorin des Litauischen Buchverbandes. Ein Grund: Es gibt nicht nur wenige Übersetzungen, die litauische Literatur ist auch schmal. Der Vorsitzende des Litauischen Verlegerverbandes bemerkt selbstkritisch, ein Grund für das geringe Interesse sei schlicht, dass vieles in der litauischen Literatur nicht gut sei: Wie viele warte auch er auf gute Bücher.
Einen bemerkenswerten Austausch eines verborgenen Schatzes brachte die berührende deutsche Veröffentlichung des „Tagebuchs für Lyda“ des deutschen Komponisten Edwin Geist, das jahrzehntelang in Litauen versteckt aufbewahrt wurde. Als der wegen seiner Abstammung von den Nationalsozialisten mit Aufführungsverbot belegte Komponist 1938 nach Litauen emigrierte, verliebte er sich in die jüdische Pianistin Lyda. Weil er um seine Frau kämpfte, wurde er Ende 1942 von der Gestapo erschossen, Lyda beging Selbstmord. In Deutschland blieb Geist bis 2002 unbekannt – da inszenierte Vladimir Tarasov, Vater des litauischen Jazz, Geists Oper „Heimkehr des Dionysos“. Die Uraufführung in Vilnius kam sechzig Jahre nach seiner Ermordung.
Jene, die auf einen neuen Aufschwung der Buchkultur wie in den Dreißigerjahren oder auch wie beim rasanten Scheinaufschwung direkt nach der Befreiung von der Sowjetunion gehofft hatten, wurden enttäuscht. Noch immer sind Touristen, die in Vilnius Reiseführer und Bildbände erwerben, für litauische Verlage ein wichtigerer Markt als die geringen Bücherexporte. Die je nach Definition sechzig bis sechshundert Verlage konzentrieren sich auf den Heimatmarkt. Die schwankenden Angaben sind Beleg für die Umschwünge, die das litauische Verlagswesen erlebt hat. Sechshundert Verlage haben eine Verlagslizenz – jeder sechstausendste Litauer besitzt also einen eigenen Verlag. Aber nur gut vierhundert geben wenigstens ein Buch im Jahr heraus, und zwanzig Verlage vereinen vier Fünftel aller Buchtitel auf sich. Erfolgreiche Bücher erreichten vor 1990 eine Auflage bis zu hunderttausend Exemplaren; jetzt gilt ein Buch schon als Bestseller, wenn es in kurzer Zeit sechstausendmal verkauft wird. Buchverkäufe sanken im Vergleich zum Vorjahr 2008 um gut zehn Prozent, 2009 gar um 25 Prozent. Verlage kämpfen um ihr Überleben, zumal eine klare staatliche Verlagspolitik fehlt und Staatsgelder für Bibliotheksetats gekappt wurden – zwischen 2008 und 2010 sanken diese auf ein Zehntel. 1991 erschien noch eine Gesamtauflage von 25 Millionen Büchern bei 3,5 Millionen Litauern, zehn Jahre später waren es noch zehn Millionen. Immerhin liegt die Zahl neuer Titel gemessen an der Bevölkerung noch immer deutlich über jener anderer Reformländer des Ostens wie Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik.
Litauischer Jazz – zündende Intensität
Wenige haben als Beobachter und Kenner des europäischen Jazz eine größere Rolle gespielt als der Kritiker Joachim Ernst Behrendt. Nach einem Festival in Berlin (West) schrieb er 1980: „Eine große Überraschung bereitete das Ganelin-Trio aus Sowjetlitauen. Die drei Musiker spielen mit zündender Intensität etwa fünfzehn Instrumente und erreichen eine euphorische Kulmination. Sie demonstrierten den spontansten und gleichzeitig organisiertesten, professionellsten Free Jazz, den ich je gehört habe.“ Ganelin, die 1965 den Schritt von der Klub- zur Konzertbühne erreichten, gelten als Wegbereiter des zeitgenössischen Jazz; deren Konzertreise durch die Vereinigten Staaten als Mutterland des Jazz war ausverkauft. Ein Grund mag gewesen sein, dass in Sowjetjahren andere westliche Musikrichtungen wie Rock oder Pop als Zeichen des Verwerflichen verboten waren. Jazz aber wurde geduldet trotz einzelner Sätze in Stalins Reich wie „Heute spielst du Jazz, morgen verkaufst du dein Vaterland“. So konzentrierten sich Musiker und Liebhaber auf Jazz als stilles Zeichen des Aufbegehrens und der Selbstbehauptung. Und pflegten eigene Klänge, indem sie Volksmusik in ihre Werke einflochten. Kaunas spielte dabei anfangs eine stärkere Rolle als Vilnius, nicht nur wegen des Jazzfestivals, sondern auch weil der Radiosender Kaunas weniger starken Kontrollen unterlag als jener in Vilnius. Auch Klaipeda spielte eine Rolle: Matrosen, Zuhörer in Hafenrestaurants, brachten begehrte Tonaufnahmen aus Nordamerika mit, die dann den Stil bildeten.
Vladimir Tarasov –