Drei baltische Wege. Robert von Lucius

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Drei baltische Wege - Robert von Lucius

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und der Rückkehr der Sonne, wird Morė, die vorchristliche Todesgöttin, durch die Straßen gezogen und verbrannt. Fabelwesen, Hexen, Teufel – meist aus Holz – stehen auffallend häufig in litauischen Vorgärten oder Parks. Auch die christliche Geschichte verlief wechselhaft. Katholiken wechselten mit Orthodoxen, Protestanten und Atheisten, je nach den Herrschern, die mal aus Polen kamen, dann aus Skandinavien, Deutschland oder Russland.

      Ein Beispiel bietet die St.-Kasimir-Kirche in Vilnius, die abwechselnd protestantisch, orthodox oder katholisch war, in den Jahren sowjetischer Besetzung aber ein Museum des Atheismus. St. Kasimir, Sohn eines polnischen Königs und litauischen Großfürsten, kleidete sich in Pferdehaare statt in ein prinzliches Gewand, betete ständig und starb jung. Also wurde er heiliggesprochen. Sein Gedenktag prägt alljährlich im März die Straßen von Kaunas und Vilnius mit Buden, an denen Blumengebinde verkauft werden, meist aber kommerzieller Kitsch; früher, klagen Altvordere, sei alles individueller und schöner gewesen. Nur wenige Tage davor waren die Gassen ebenfalls voll mit Masken, Tänzern, Feuern: Die böse „Frau Winter“ wurde verbrannt. Hier wie oft in Litauen vermengen sich christliche und heidnische Elemente.

      Nicht alles ist von bösen Winterfrauen oder Teufeln geprägt. Auch das Gute im Menschen wird gefeiert, in den Tagen vor Weihnachten etwa in den vielen Galerien der Altstadt von Wilna. Eine Galerie am Engelsplatz, den selbst der Dalai Lama mit guten Wünschen besuchte, stellt nur Kunstwerke mit Engeln aus. Und in der Stadt Anyksciai, gut hundert Kilometer nördlich von Vilnius, gibt es ein Engelmuseum. Es wurde 2010 gegründet von einer aus dem amerikanischen Exil heimgekehrten Schauspielerin, die es als Gegenstück sieht zum von ihr verachteten Teufelsmuseum.

      Die wenig zerstörte Natur spielt eine Rolle bei dem Glauben an das Übersinnliche. Was für viele weiter im Westen befremdlich sein mag, vom Volksglauben über die Johannisnacht und dem „Hexenberg“ auf der Kurischen Nehrung bis zu den Wahrsagern, ist nicht wenigen Litauern, die umfassend erst vor 130 Jahren alphabetisiert wurden, selbstverständlich. Sagen sind Teil des litauischen Selbstbewusstseins. Die Holzschnittkunst kommt dem entgegen. Selbst große Gestalten des litauischen Geisteslebens wie der Maler und Komponist Mikalojus Konstantinas Ciurlionis – dessen hundertsten Todestag Litauen 2011 aufwendig feierte – beschäftigten sich in ihren Werken mit Kosmologie, Allegorien und Symbolen, mit dem Spirituellen.

      Quedlinburger Stiftsdamen ist zu verdanken, dass Litauen im Jahr 2009 nicht nur die Hauptstadt Vilnius als europäische Kulturhauptstadt feiern konnte, sondern, wichtiger noch für das Selbstbewusstsein, auch sein tausendjähriges Bestehen. Sie berichten in einem Eintrag zum Tod des Missionars Bruno von Querfurt, der Litauer zum Christentum bekehren wollte: „Der Heilige Erzbischof und Mönch Bruno, zubenannt Bonifacius, wurde an den Grenzen von Ruscien und Lituen von den Heiden mit achtzehn Gefährten enthauptet und kam am 9. März im elften Jahr seiner Bekehrung in den Himmel.“ Die erste verbürgte Eintragung des Landesnamens in den Quedlinburger Annalen bot Anlass zu Feiern und Ausstellungen nicht nur in Litauen, sondern auch im Quedlinburger Schloss und im Roten Rathaus in Berlin.

      Sie wiesen auf den Behauptungswillen der Litauer, die sich immer wieder gegen Fremdherrschaft wehren mussten. Nach dem Großfürstentum und den Phasen der Besetzungen kamen die beiden neuerlichen Erklärungen der Unabhängigkeit 1918 und wieder 1991. Wie stark dieser Wille war, zeigte sich nicht zuletzt Anfang der Fünfziger, als etwa 100 000 Partisanen sich vergeblich gegen die sowjetische Besatzungsmacht wehrten.

      Nicht nur mit Quedlinburg, der „Wiege Deutschlands“, gibt es enge Bande zwischen Litauen und Orten im weiteren Umfeld des Harzes. Vilnius und Kaunas hatten wie andere Städte Mitteleuropas das „Magdeburger Recht“ übernommen. Auch die Sammlung der Bibliotheca Augusta, der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, hat Bestände, die für die litauische Forschung und für deutsche Baltisten (die sich traditionell stärker dem Litauischen und dem Altprussischen zuwenden als dem Lettischen) von einiger Bedeutung ist. Sichtbar wird das nicht zuletzt in der Zeitschrift „Archivum Lithuanicum“, in der umfangreiche Beiträge zu der litauischen „Wolfenbütteler Postille“ von 1573 erscheinen – diese wurde ediert und gedruckt in zwei Bänden, zusammen 1 700 Seiten lang. Da die dort gesammelten lutherischen Predigttexte umfangreich und früh sind, zählen sie zu den wichtigsten Texten für Sprachwissenschaftler, Theologen und Kulturwissenschaftler zugleich. Zu den digital zugänglichen Wolfenbütteler Beständen zählt das „Religionsgespräch in Vilnius“ von 1585.

      Der Wolfenbütteler Bibliotheksbegründer August der Jüngere hatte viele der Bücher noch selber erfasst und in seinen Bücherradkatalog eingetragen – als einen der letzten persönlich eingeschriebenen Texte eben die litauische Postille. Dass die herzoglichen Sammler sich Litauen besonders zuwandten und nach Werken suchten, war wohl eine Folge von Briefen, die mit dem Geschenk der litauischen Grammatik von Daniel Klein von 1653/1654 die litauische Sprache erläuterten.

      Ohne Ankündigung, nur wenigen Vertrauten bekannt, kam ein Dichter 1989 aus Los Angeles nach Vilnius. Binnen Kurzem aber, noch unter sowjetischer Besetzung, hörten viele Zehntausend seinen Lesungen zu, zunächst in Parks, dann im Sportpalast oder im Opernhaus von Vilnius. Viele Ältere kamen mit versteckten und verknitterten Gedichtbänden aus der Zeit vor fünfundvierzig Jahren, bevor Bernardas Brazdzionis, den seine Landsleute jetzt wie einen Propheten begrüßten, fliehen musste. Die Fülle von Ausstellungen, Jazzkonzerten, Lesungen damals wie jetzt belegt einen kulturellen Hunger, eine Dichte, die nicht oft zu finden ist bei einer solch kleinen Bevölkerung von 3,3 Millionen – weniger als Rheinland-Pfalz oder El Salvador.

      Die Geschichte der ersten Heimkehr von Brazdzionis zeigt mancherlei: In Vilnius verdichtet sich Kultur seit vielen Jahrhunderten. In den Jahren der Okkupation halfen Sprache und Literatur, nationalen Widerstand aufrechtzuerhalten. Und schließlich: Die Literatur Litauens ist zersplittert. Etwa die Hälfte aller bedeutenden Romane und Dichtungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstand im Exil, und ziemlich genau die Hälfte aller Schriftsteller floh 1944 vor den Russen nach Deutschland oder Amerika. Schon zuvor hatte Litauen Aderlasse des Geisteslebens durch Fluchtbewegungen – die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer etwa entstammt einer Familie aus der Grenzregion von Lettland und Litauen – und durch die Vernichtung der litauischen Juden durch Nationalsozialisten und ihre litauischen Gehilfen erdulden müssen. Wie reich die litauische Literatur aber war und ist, zeigen Adam Mickiewicz und Czesław Miłosz (dem sich die Internationale Buchmesse in Vilnius 2011 zuwandte in Gedenken an seine Geburt vor hundert Jahren): Die überragenden polnischsprachigen Dichter des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen sich beide als Litauer, und beide haben an der Universität Vilnius studiert.

      Dennoch ist die litauische Literatur im Ausland wenig bekannt. Das wurde nur unwesentlich anders, nachdem Litauen 2002 als erstes „kleines“ Land Partner der Frankfurter Buchmesse war. Dabei kann die litauische Sprache auf eine lange Tradition verweisen. Die Universität Vilnius wurde 1579 gegründet. Schon sechzig Jahre zuvor, achtzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa, entstand in der Stadt eine Druckerei. Manches wird eher in der Ferne bewahrt: Eine gut vierhundert Jahre alte litauische Bibel wurde erstmals 2002 im Ursprungsland ausgestellt – das Original liegt im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin.

      In den ersten Jahrhunderten wurden die meisten in Litauen erschienenen Bücher in einer slawischen Sprache oder auf Latein publiziert. Reich war das Litauische, obwohl es nie ein Nationalepos besaß, anfangs vor allem an Volksliedern und Märchen. Erst zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einhergehend mit der Wiedergeburt des litauischen Nationalismus, entstand eine breitere weltliche Dichtung. Fast zur gleichen Zeit befürchteten Sprachwissenschaftler einen Untergang des Litauischen wie des Altpreußischen. Einen Aufschwung erlebte die Literatur in den Jahren der Unabhängigkeit Litauens seit 1918, in denen in Vilnius zahlreiche literarische Magazine entstanden. Unterbrochen wurde das durch die sowjetische

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