Drei baltische Wege. Robert von Lucius

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Drei baltische Wege - Robert von Lucius

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die nur kurz bleiben wollen, trotz sprachlicher Nähe: Es ist die ursprünglichste überlebende indogermanische Sprache, nahe nicht nur dem Sanskrit, sondern auch dem Altpruzzischen (Altpreußischen).

      Unter den baltischen Staaten ist Litauen der größte (und der einzige, in dem sich nicht fast alles auf die Hauptstadt konzen­triert). Er zieht die meisten Investitionen aus Deutschland an sich: Zahlen schwanken je nach Zählweise zwischen 900 und 1 200 Unternehmen mit deutscher Beteiligung, auch wenn einige Banken und Konzerne sich zurückzogen und ihre Anteile nordischen Gruppen verkauften. Neben den großen Investoren – in Gasvertrieb, Banken, Versicherung und Elektronik – stellen mittelständische Unternehmen Fahrräder her oder Autoteile, auch Holzhändler und Holzverarbeiter gibt es mehrere. Einige Deutsche sind Berater in Fabriken, Rechtsanwälte, Geschäftsführer von Diskotheken, Deutschlehrer oder Dozenten an den Hochschulen, oft junge und unternehmensfreudige Leute.

      Nicht alles ist für Übergesiedelte einfach: Die Geltung der Krankenversicherung ist lückenhaft und das staatliche Krankenhauswesen noch von den Sowjetjahren geprägt, auch wenn sich vieles verbessert hat. Wer eine Operation oder eine schwierige Behandlung vor sich hat, tut gut daran, nach Deutschland zu fliegen oder dem Arzt als „Geschenk“ einen Umschlag mit einigen Scheinen zu geben, um Termine zu erhalten – viele Ärzte empfangen nur noch Privatpatienten. Eine vergleichende europäische Untersuchung befand, Litauen habe das am wenigsten „benutzerfreundliche“ Gesundheitssystem aller EU-Länder. In öffentlichen Krankenhäusern sind die ohnehin niedrigen Gehälter seit der Wirtschaftskrise mindestens zweimal gesenkt worden, Schwestern und Ärzte verlassen das Land. Zumindest die Mieten können sich viele Litauer ersparen: Meist gehören Häuser und Wohnungen den Bewohnern. Sie sind ebenso leicht zu kaufen wie zu mieten, zumal die Stadt mit 560 000 Menschen ständig Einwohner verliert. Für Unternehmer mit viel Handfertigung im Produktionsablauf ist Litauen dank niedriger Lohnkosten und Steuern ein günstiger Standort. In kaum einem anderen Land der EU dürften die Lebenshaltungskosten so niedrig sein. So kann man bei einem für westliche Verhältnisse niedrigen Gehalt gut leben, zumal das Angebot von Restaurants und Cafés ebenso breit wie gut ist. Mühsam und zeitraubend ist, nicht nur für Zugewanderte, die Bürokratie. Unerträglich wird es, wenn man mit dem Migrationsamt zu tun hat – manches scheint willkürlich.

      Ganz die Lebendigkeit Rigas hat Vilnius nicht, die katholische Prägung und historische Nähe zum Nachbarn Polen hebt es ab von Lettland und Estland. Vilnius galt im Mittelalter als Hort der Toleranz, auch wenn davon in den letzten Jahrzehnten einiges eingebüßt wurde. Nach einer größeren Offenheit nach dem EU-Beitritt sinkt nun wieder die Toleranzschwelle gegenüber Minderheiten unter dem Einfluss populistischer Politiker. Medien greifen das bereitwillig auf. Manche genießen die Überschaubarkeit: Fast alles kann man im Stadtzentrum zu Fuß erlaufen. Zudem ist man innerhalb einer Stunde an einem See zum Angeln. Viele empfinden die Menschen als warmherzig, freundlich – sie nehmen einen Fremden rascher und herzlicher als anderswo auf. Der Familienzusammenhalt ist groß, sichtbar nicht zuletzt im Herbst, wenn junge Menschen aus der Stadt auf die Höfe heimkehren, um ihrer Familie bei der Ernte zu helfen. Hier findet man offenbar leichter als anderswo den Weg zur Natur und inneren Ruhe.

      An der Prachtstraße Gedimino, die wie vieles andere aufwendig ausgebaut wurde, reihen sich Boutiquen mit großen italienischen oder französischen Luxusnamen auf. Viele sind leer, ihre Besitzer verdienen aber genug, wenn am Tag nur ein russischer Großkunde zu Besuch kommt. Stärker noch als Riga und Tallinn wächst Vilnius städtebaulich unaufhörlich. Auf der der Altstadt abgewandten Flussseite der Neris wird ein Hochhaus neben dem anderen gebaut, wo vor wenigen Jahren noch keines stand. Nicht nur das Bauwesen, die gesamte Wirtschaft wuchs in einem Tempo wie in wenigen anderen Ländern der EU – unter der Wirtschaftskrise litt dann aber wiederum die Bauwirtschaft am stärksten.

      So gleitend und schwer zu fassen wie das Stadtbild ist das Selbstverständnis von Vilnius: Es ist weder ganz Osten noch ganz Westen, ein wenig Skandinavien, ein wenig mehr Polen, etwas russisch und eine Prise deutsch.

      Unten im Keller werde alles authentisch sein, oben in den Museumsetagen aber symbolisch. Der Archäologe, der den Vornamen des Großfürsten Gediminas trägt, ist wie viele in Litauen Feuer und Flamme für den Wiederaufbau des Palastes der Großfürsten, der auch Königsschloss genannt wurde. Ein litauischer König hatte dort residiert und dann fast drei Jahrhunderte lang Großfürsten, die oft gleichzeitig Könige von Polen waren. Der Wiederaufbau – Gediminas bevorzugt als genauer Mensch den Begriff Atkūrimas, Wiederschöpfung – bewegt die Gemüter seit fünfzehn Jahren, stärker noch als etwa der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Die einen sehen hier den früheren und künftigen Mittelpunkt ihres Gemeinwesens, die anderen weisen auf die Wirtschafts­krise – bei knappen Mitteln sollten Steuergelder eher für sozialen Ausgleich eingesetzt werden. Für Besucher geöffnet werden soll das schon weitgehend fertiggestellte Schloss spätestens 2013, also deutlich vor dem Berliner Stadtschloss, obwohl die zeitlichen „Vorgaben“ – der Fall der Berliner Mauer und die Wiedererlangung der nationalen Souveränität Litauens – übereinstimmen und Litauen weit ärmer ist.

      Fast wie neu – der Palast des Großfürsten

      Gewiss ist nach dem Gang durch die Räume des Schlosses, dass es dann nicht nur der größte touristische Anziehungspunkt der Hauptstadt sein wird, sondern auch ein Ort der Besinnung für jene mit Sinn für Geschichte und einer Sehnsucht nach einstiger Größe. Von hier aus regierten die Schlossherren über das halbe Mitteleuropa. Litauen-Polen war damals das flächenmäßig größte Land Europas. Sie vermählten sich mit Prinzessinnen oder Prinzen aus Schweden, Österreich und auf Vermittlung des Papstes den italienischen Sforza (Herzog von Mailand), was dem Ausbau italienischen Glanz brachte. Sie sammelten hier kostbare Gobelins, Möbel, Bücher. Selbst jene Politiker, die in alljährlichem Ritual bei der Haushaltsdebatte im Parlament ein Auslaufen der Baumittel fordern, meinen das eigentlich nicht ernst – dies ist ein nationales Anliegen. Der Staat beginnt hier, sagt Gediminas. Der verstorbene frühere sozialdemokratische Präsident und Ministerpräsident Algirdas Brazauskas, Vorsitzender des Wiederaufbauausschusses, war ein glühender Verfechter des Baus. Er bedauerte, dass es Streit gebe – und weiterhin gibt – um den Palast. Er werde das Wissen um die Kultur des Landes bereichern und patriotische Gefühle wecken. Just vor diesen, einem romantisierenden Nationalismus, warnen wiederum Kritiker.

      Wer den Schlossbau betrachtet, bekommt das Gefühl, diese kleine Nation gehe durchdachter und vor allem realistischer heran als Deutsche, die sich um den Aufbau ihrer Schlösser in Berlin oder Braunschweig streiten. Dreizehn Jahre lang von 1987 an suchten zunächst Archäologen im Boden. Sie fanden neben Mauerresten vom dreizehnten Jahrhundert an um die 300 000 Artefakte. Dann beschloss das Parlament 2000 den Aufbau, der zwei Jahre später begann. Auch Parteien und Politiker, die anfangs skeptisch waren, fühlten sich an diesen Beschluss gebunden. Ein Jahrzehnt später scheint das meiste bereit. Selbst leere Vitrinen stehen schon und sechs prachtvolle Kachelöfen mit Familienwappen oder Skulpturen. Wie beim übrigen Vorgehen nutzte man die Kacheln, die man bei den Grabungen fand, nur als Vorlage für eine originalgetreue Nachbildung durch Fachleute. Die Originale werden in den Vitrinen ausgestellt werden. Der Fliesenboden, die Holzdecken, die Leuchter wurden jeweils nachempfunden der Periode, die die Räume haben. Wer durch den Palast geht, durchschreitet Stilperioden, in denen er Wandlungen erfuhr, von der Spätgotik über die Renaissance – der Höhepunkt der Macht- und Prachtentfaltung – bis zum Frühbarock und dem nordeuropäischen Manierismus.

      Für Besucher bereit – Kachelofen und Kandelaber im Palast

      Die originalen Mauerreste im Keller bleiben, wie sie waren. Sie können umwandert oder nachts erleuchtet durch Glasfenster von oben betrachtet werden, etwa bei Konzerten im

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