Drei baltische Wege. Robert von Lucius
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Auch wenn es im Politischen immer wieder kriselt: Wirtschaftlich boomten zunächst die drei Nachbarn, die nach Landfläche zusammen halb so groß sind wie Deutschland, mit zusammen 6,9 Millionen Menschen aber noch nicht einmal ein Zehntel von dessen Bevölkerung besitzen. Begünstigt wurde der Aufschwung durch ein hohes Ausbildungsniveau, eine solide Infrastruktur, stabile Währungen, einen hohen Anteil der Privatindustrie, niedrige Kosten. Die nordischen Staaten übernahmen die Rolle des Marktführers bei Investitionen und teils beim Handel: Dänemark in Litauen (Lietuava), Finnland in Estland (Eesti), Schweden in Lettland (Latvija). Bis zum Einbruch des Außenhandels 2009 war für Lettland Deutschland Handelspartner Nummer eins, es wurde mittlerweile aber überholt von Litauen und Russland. Dazu kam eine hohe Arbeitslosigkeit, die immer mehr Jugendliche und Tatkräftige in das Ausland trieb, und eine hohe Verschuldung von Privatpersonen. Die globale Finanzkrise traf die baltischen Länder stärker als andere – der Abschwung wurde ebenso rasant in Zahlen wie in seinen Auswirkungen wie zuvor das Wachstum.
In allem Auf und Ab pflegen und ehren die Balten ihr historisches Erbe und die Bindungen zu Deutschland. Nicht ohne Grund gilt Riga als Jugendstil-Hauptstadt Europas. In Tallinn, die Innenstadt ist wie Vilnius und Riga ein Weltkulturerbe, stößt der Besucher auf mehr hansische spitzgiebelige Backsteinarchitektur als in fast jeder norddeutschen Stadt außer vielleicht in Lübeck. Als erstes Land Mitteleuropas rief Estland Deutschbalten auf, in ihre alte Heimat zurückzukehren, sie seien hochwillkommen. Der frühere litauische Präsident Valdas Adamkus verhinderte 2008 den Vorschlag von Abgeordneten, von Deutschland eine Entschädigung für Kriegszerstörungen zu verlangen – gegenüber Russland aber bleibt diese Forderung, weil Moskau sich nicht zu seiner Vergangenheit bekenne. Nicht wenige der Deutschbalten, die im Mittelalter nach Livland oder Kurland einwanderten, kamen aus der norddeutschen Tiefebene. Mal gehörte der nördliche Teil des Baltikums zum schwedischen Königreich, dann wurde es ein halbautonomer Teil des russischen Zarenreichs. Über viele Jahrhunderte wechselnder Herrschaft hinweg aber war die weitaus engste Bindung die zu Norddeutschland. Die Umgangssprache der Kaufleute, Handwerker, Juristen war deutsch. Seit 1693 galt in Reval das lübische Stadtrecht – erst 1877 wurde es durch die russische Gemeindeordnung abgelöst.
Besonders in Deutschland spricht man gerne verallgemeinernd vom Baltikum. Deren drei Länder unterscheiden sich aber in Sprache, Konfession und Selbstverständnis grundlegend voneinander. Zur baltischen Sprachgruppe zählen Lettisch und Litauisch. Litauisch ist die ursprünglichste überlebende indogermanische Sprache. Estnisch dagegen ist eine finno-ugrische Sprache und dem Finnischen nahe. Estland und Lettland sind, soweit Religion die sowjetischen Jahrzehnte überlebte, evangelisch-lutherisch und ihre starken russischen Minderheiten russisch-orthodox, die Mehrheit aber Atheisten. Litauer dagegen sind fast durchgehend katholisch. Tallinn und Riga sind architektonisch von den Hansejahren und der Backsteingotik geprägt, Vilnius ist barock und auch kulturell aus Polen beeinflusst. Estland fühlt sich Finnland und dem Norden zugewandt; bisweilen debattieren Esten darüber, ob sie baltisch oder nordisch sind, wem ihre erste Loyalität gelte. Litauen dagegen interessiert sich bisweilen mehr für Polen und seine südlichen Nachbarn als für Lettland und Estland. So ist Vilnius neben Polen Basis und Nährgrund für die friedliche Opposition in Weißrussland und den Kaukasus-Staaten. Allen drei eigen ist trotz Jahrhunderten der Fremdherrschaft ein ungewöhnliches und über Generationen hinweg bewahrtes und weiter getragenes Gefühl der Selbständigkeit, der Selbstbehauptung. Wer auch immer versuchte, es zu zerreiben und zu zerstören – alle drei sind wiederauferstanden. Trotz aller gemeinsamen Wurzeln, der politisch motivierten regionalen Zusammenarbeit und des der Region vorgegebenen Außenbildes kann man leicht provozierend, aber nicht falsch sagen: „Das Baltikum“ gibt es gar nicht.
In ihrer geostrategischen Rolle aber sind sich die drei baltischen Staaten nahe. Das ist ein Grund, weshalb Moskau, Washington, Stockholm und Berlin so viel Aufmerksamkeit drei Ländern mit zusammen noch nicht einmal sieben Millionen Bewohnern zuwenden. Russland ist sicherheitspolitisch besorgt, die Nato so nahe an seiner Grenze zu wissen, nur wenige Dutzend Kilometer entfernt von seiner zweitgrößten Stadt Sankt Petersburg. Dazu kommt eine emotionale Belastung: Dies sind die ersten ehemaligen Sowjetrepubliken, die Teil der Nato wurden. Noch unlängst war Jurmala bei Riga für die sowjetische Elite als Sommerfrische ein bevorzugter Badeort, jetzt kommen wieder Russen der Oberschicht – gar nicht weit entfernt stehen aber Kampfflugzeuge der Nato.
Balten empfinden die Nato, stärker noch als die EU, als Schutzschild, das verhindert, dass ihnen das Gleiche geschieht wie 1939. Damals einigten sich Moskau und Berlin im August in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Ribbentrop-Molotow-Pakt (bekannt als Hitler-Stalin-Pakt) über eine Interessenaufteilung des Baltikums, Polens und Finnlands und gaben damit deren Unabhängigkeit preis. Hitler ließ sich das Memelland und den Westen Polens zusichern, Stalin Ostpolen, Finnland und die baltischen Länder. Das ist weiterhin ein nationales Trauma. In den Jahren des Widerstands und Exils wie auch in den Neunzigern stellte sich Washington kraftvoller hinter das baltische Unabhängigkeitsstreben und den Nato-Beitritt als zögerliche Regierungen in London, Berlin und Paris, die auf Moskau Rücksicht nehmen zu müssen glaubten. Daher fühlen sich die baltischen Länder sicherheitspolitisch bisweilen Washington näher verbunden als ihren westeuropäischen Verbündeten – ähnlich wie andere Staaten Mitteleuropas wie Ungarn, Polen und die Tschechische Republik.
Welche Bedeutung die baltischen Länder für den Westen und auch für die Vereinigten Staaten haben, erläuterte der damalige Präsident George Bush im Mai 2005 zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes in Riga: Er sehe Lettland, Litauen und Estland als „unglaublich wichtige Symbole“ dafür, was Freiheit in Europa bedeute und in der Welt. Sie hätten einen der dramatischsten Umbrüche der neueren Geschichte erlebt – und mitgestaltet – und seien in gut einem Jahrzehnt von gefangenen zu freien Nationen geworden. Dabei gab er sich selbstkritisch im Blick auf die damalige Politik Washingtons und Londons: Im Abkommen mit Stalin in Jalta habe das Streben nach Stabilität die Freiheit verdrängt. Wenn große Mächte verhandelten, litten oft kleine Länder. Die „Gefangennahme“ von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa bleibe einer der großen Fehler der Geschichte. Symbolträchtig war der Ort dieser Rede von Bush: im Saal der Gilde, der an die wechselvolle Verbindung Rigas mit der Hanse und mit Deutschland erinnerte. An der Wand waren Bilder von Lübeck und Bremen sowie in gotischer Schrift deutsche Weisheiten wie der Spruch „Wer seines Feindes gutes thut / Der zeigt von größter Edelmuth“.
Nicht diese alte Weisheit prägt die Haltung der baltischen Länder zu Moskau, sondern die Erfahrung der vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst kamen die Russen (davor siedelten unter Druck die meisten Deutschbalten nach