Pappelallee. Andreas H. Apelt

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Pappelallee - Andreas H. Apelt

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aus Drehna in der Niederlausitz, der zu einem Theologiestudium nach Berlin gekommen ist, geht ihm durch den Kopf. Er muss auch an Friedensthaler, seinen Lehrer, denken und die Buchstaben, Friedensthalers Buchstaben. Rasselten sie nicht ebenso durch das Haus, damals als er noch ein Kind war und nachts nicht schlafen konnte. Das war in Templin, einer Kleinstadt der Uckermark, wo er sich mit zwei Schwestern und der Mutter eine kleine Wohnung in einem Mietshaus teilte. Und natürlich drei weiteren Mietparteien.

      Den Vater kennt Hülsmann nur vom Foto. Das steht noch immer auf der Vitrine in der Templiner Wohnstube. Ein Mann in einem dunklen Anzug, schmales Gesicht, große dunkle Augen, schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar. Der Sohn prägte sich das Gesicht genau ein, denn er wollte ihn erkennen, falls er ihm einmal über den Weg laufen sollte.

      Doch der Vater lief seinem Sohn nicht über den Weg. Dabei tragen sie beide denselben Vornamen. Hans Junior glich äußerlich sogar dem Vater. Das behauptete die Mutter, die ihren Mann seit Juli 1961 nicht mehr gesehen hatte. Damals war er über Westberlin nach Hannover gegangen. Abgehauen, sagten die Leute. Republikflucht, sagte der Schuldirektor. Dabei war es so einfach. Hülsmann Senior blieb einfach in der S-Bahn sitzen, die zum Bahnhof Zoo fuhr. Er sollte den Neuanfang der Familie im Westen vorbereiten. Aus dem Neuanfang wurde nichts. Der Mauerbau verhinderte, dass die Familie folgte. Und der Vater kam nicht zurück. Aus Angst oder weil er eine andere Frau gefunden hatte. Der letzte Brief vom 3. Oktober 1961 wurde wie eine Reliquie verehrt. Auch er liegt in der Vitrine. Alles wird gut, steht darin. Doch nichts geschah. Gar nichts. Funkstille.

      Damals jedenfalls hörte Hans Hülsmann im Templiner Mietshaus dieses Rasseln, dieses ferne Schreibmaschinenrasseln. Wie kleine Füße gingen die Anschläge durchs Haus. Mal lauter, mal leiser. Hab keine Angst, hatte die Mutter gesagt und ihm die Bettdecke bis an das Kinn gezogen: Der neue Nachbar, er schreibt viel.

      Was nur, dachte der kleine schwarz gelockte Hans Hülsmann, kann man nachts schreiben und drehte sich auf die andere Seite. Was nur? Auf der anderen Seite war die kalte weiße Wand. Aber auch sie gab keine Ruhe, denn die kurzen mechanischen Schrittchen angelten sich an ihr empor. Buchstabe für Buchstabe. Höher und höher.

      Herr Friedensthaler schreibt nur, versuchte sich der Junge zu beruhigen.

      So drehte er sich erneut, als könnte er dadurch den Schrittchen entfliehen. Aber nein, auch das half nichts. Die Schritte blieben und marschierten nun geschlossen durch das nächtliche Kinderzimmer. Mal auf, mal ab, aber fast immer um den kleinen Tisch, auf dem die Schulsachen lagen. Auch der helle Mond, der durchs Fenster trat, vermochte die Schritte nicht zu sehen, nur zu hören.

      Da setzte sich das Kind ans Fenster und starrte auf die leere Straße. Wenn alle Straßenlampen funktionierten, gab es an fünf Stellen gelbe blasse Lichtkegel. Dazwischen kämpfte der Mond mit schwarzen Schatten.

      So saß er manchmal die halbe Nacht und beobachtete das Schauspiel.

      Wenn ihn die Mutter am nächsten Tag weckte, war er müde und zerschlagen. Was machst du nur immer?, fragte sie, während sich Hans am Küchentisch ein Marmeladenbrot hinunterquälte. Du musst einfach eher ins Bett.

      Hans nickte.

      Was macht der neue Nachbar?, fragte er dann.

      Was schon, er ist Lehrer.

      Lehrer?

      Ja, Lehrer. Du wirst ihn bald erleben.

      Aber was müssen Lehrer denn in der Nacht schreiben?

      Die Mutter zuckte mit den Schultern. Musst ihn fragen, antwortete sie lachend. Frag ihn einfach.

      Hans kaute behäbig weiter und starrte dabei auf das karierte Wachstuch. Dann nahm er einen so großen Schluck vom Malzkaffee mit dem schönen Namen Muckefuck, dass sich sein Gesicht verzerrte, und sprang auf.

      Iss langsam, ermahnte die Mutter, doch da hatte Hans schon die Küche verlassen.

      Friedensthaler war anders. Nicht nur äußerlich. Da wirkte er wie eine hagere hoch aufgeschossene Marionettenfigur. Aber er hing nicht an diesen Fäden, wie man sie von Marionetten kannte. Auch wenn es so aussah. Vor allem wenn er kerzengerade, als hätte er einen Stock verschluckt, durch das Klassenzimmer tänzelte. Sein graues Haar war in den Nacken gekämmt und entblößte ein nacktes spitzes Gesicht. Darin hing, als hätte sie keinen Halt, eine große Brille mit feinem Gestell.

      Seine spitzen langen Finger berührten die Bücher, aus denen er vortrug, nur sacht. Vielleicht aus Angst, den Büchern wehzutun. Literatur ist eben zerbrechlich, sagte er einmal. Und auch seine Stimme tat den Büchern nicht weh. Weder dem Goethe, noch dem Hauptmann, nicht Brecht und erst recht nicht dem Rilke. Aber am liebsten ist die Stimme Heine gefolgt. Zeile für Zeile. Diese Stimme schwebte durch den Klassenraum. Und doch schlug sie unablässig gegen die Wandzeitung oder den Generalsekretär. Aber nur weil sie den Raum nach vorn und hinten begrenzten. Die Wandzeitung war rot. Oder besser das Tuch, auf dem Fotos und Zeitungsartikel klebten. Manchmal war auch die Weltkarte rot. Jedenfalls große Teile davon, die den Vormarsch des Sozialismus anzeigten. Schließlich, so wusste jeder der Schüler, befand man sich in der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Und dann sollte auch der Kommunismus nicht weit sein.

      Die Überschrift der Wandzeitung war fast immer schwarz, manchmal auch golden. So zum 7. Oktober, dem Tag der Republik, zum Tag der Oktoberrevolution oder dem Tag der NVA. Der Generalsekretär war grau. Das lag an dem Schwarz-Weiß-Bild. Er hatte ein ernstes Gesicht, obwohl der graue Spitzbart ihn freundlich machte. Aber das sagte keiner.

      Nicht einmal Friedensthaler, obwohl er doch Lehrer war.

      Freidensthalers Stimme lag sanft und warm im Raum. Es schien, als könne sie nie im Irdischen landen. Sie stand über den Köpfen der Schüler. Es lag etwas Fremdes und gleichsam Erhabenes in dieser Stimme, das sie so anziehend machte. Es war eine aus Büchern geliehene Sprache, in einem Tonfall, der jeden Gegenstand und jeden Vorgang schmückte. Es war eine vertonte Sprache, angereichert mit klangvollen Füllwörtern.

      Nun Kinder, ich gestatte mir schon jetzt auf den Zustand höchster Entzückung zu verweisen … oder ich hoffe sehr, dass ihr zu schätzen wisst, aus welch misslicher Lage … Ausgerechnet diese Friedensthaler-Sprache, für die man manchmal eine Übersetzung brauchte, war umzingelt von einer kurzatmigen holprigen Sprache der Uckermark, in der die Leute grundsätzlich die Wortenden verschluckten.

      Hans Hülsmann hatte das Gefühl, dass in dieser geheimnisvollen und fremden Welt Friedensthalers die großen Antworten auf alle ungeklärten Fragen des Universums schlummerten. Und Fragen gab es genug.

      Ohnehin war das Leben Friedensthalers eine große Frage und damit geheimnisvoll. Schon weil er des Nachts unendlich lange Seiten mit Tausenden Anschlägen füllte und Hans nicht schlafen ließ. Manchmal war es auch ein Auto, eigentlich dessen zuschlagende Türen, die den Jungen weckten. Das Auto hielt vor dem Haus. Dann stiegen zwei Männer aus. Die schauten sich erst einmal um, als verfolgte sie jemand. Aber da war niemand, überhaupt niemand.

      Irgendwann verließen sie wieder das Haus. Dabei blickten sie sich erneut um, bestiegen den Wagen und hinterließen auf der menschenleeren Straße nur das Bellen einiger herumstreunender Hunde.

      Nach wenigen Minuten der Stille setzte das hektische Dahineilen Tausender metallener Füßchen wieder ein. Friedensthaler schrieb. Vielleicht, so dachte er jetzt, hatte Friedensthaler ihn damals mit dem Schreiben angesteckt. Vielleicht ist es doch wie eine Krankheit, immer etwas mitteilen zu wollen, weil all das, was man denkt, sich nicht im Kopf verschließen lässt. Aber kann man es in Sätzen festhalten?

      Hans Hülsmann kann nicht

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