Pappelallee. Andreas H. Apelt

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Pappelallee - Andreas H. Apelt

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ist und eigentlich völlig zu vernachlässigen. Aber, schimpft Hoffmann, wo kommen wir denn da hin, die Rechtsordnung so zu missachten. Und angefangen hat das alles mit der Perestroika. Kann ja gut sein, dass der Gorbatschow neue Ideen hat und so, aber ehrlich, vorher gab es so was nicht. Das muss man doch auch mal zur Kenntnis nehmen!

      Entgleisung also, so eines seiner Lieblingswörter, der meist die Entfremdung vorangeht. Und natürlich fehlt in diesem Vokabular auch nicht die Entartung. Entartet ist bei Heinrich Hoffmann viel, die Jugend, die Zeit, das Denken, die Kunst.

      Da haben es die Hülsmänner nicht leicht. Vor allem wenn sie sich zu allem Überfluss, mit eben dieser Kunst schmücken. Denn Kunst ist, wie Hoffmann meint, nicht nur nicht handfest, das ginge ja noch, Kunst ist gefährlich. Und man weiß ja nie, wo es damit endet.

      Also, was noch?

      Nun, Hülsmann hat sein Buch und den Mantel. Natürlich hat Hülsmann noch viele Bücher, aber dieses ist eben ein besonderes. Und das nicht nur wegen dem braunen Schweinsleder.

      Kein Wunder, wenn es Hülsmann sein Heiligtum nennt. Alles was er darin festhält und das ist, obgleich ausgesucht, nicht wenig, wird Teil der Ewigkeit. Das Buch, das er auch heute liebevoll seine Parerga und Paralipomena nennt, behütet er wie seinen Augapfel. Stets trägt er es bei sich und hat dafür in die Innenseite seiner Weste eine Tasche genäht. Das Buch bläht so den Bauch, aber auch das ist Hülsmann egal, das Buch bleibt bei ihm.

      Die Texte sind kaum leserlich. Hülsmanns Schrift ist nämlich klein, so klein, dass sie kaum zu entziffern ist. Da braucht es manchmal eine Lupe. Aber es liest ja auch niemand. Nur Hülsmann selbst und der hat allen Grund, das Buch bis zur letzten Seite zu füllen. Sei es mit Theaterstücken, Gedichten, Erzählungen, Zitaten oder nur Dialogen, die Hülsmann irgendwo aufschnappt und dann zu Papier bringt. Je kleiner er schreibt, desto mehr kann er sich mitteilen.

      Das Buch ist Teil seiner selbst, mit ihm hält Hülsmann Zwiesprache, ihm vertraut er sein Denken und Fühlen an. Es ist eine Art Tagebuch ohne Tagebucheintragungen, weil Hülsmann seine Worte anderen Figuren in den Mund legt. Und diese Figuren wiederum sind Teil seines eigenen Theaters.

      Ähnlich theatralisch verhält sich Hülsmann mit dem Mantel. Einem echten Zaubermantel, wie er sagt. Gekauft hat er ihn im Zweite-Hand-Laden Pappelallee, Ecke Stargarder. Es ist der größte Trödelladen im Kiez. Der Mantel ist aus schwerer schwarzer Wolle und so lang, dass er bis zu den Knöcheln reicht. Die Zauberkraft dieses Mantels besteht in seiner Tarnfunktion. Angezogen verschwindet man mit ihm und kann fortan die Welt aus dem sicheren Abstand eines Unsichtbaren betrachten. Also doch goldwert! Und wer wollte nicht mal unsichtbar sein und damit sich und alle Welt vergessen? Also auch das ist normal, jedenfalls nicht ungewöhnlich. Warum allerdings ausgerechnet dieser Mantel unsichtbar macht, kann nicht mal Hülsmann sagen, der sonst für alles eine Erklärung hat. Und das man an der Pappelallee, Ecke Stargarder, Zaubermäntel für zwanzig Mark verkaufen soll, erscheint auch wenig glaubwürdig. Aber vielleicht war es eben Zufall, so wie alles in der Welt Zufall ist oder Schicksal oder gottgegeben. Eben vorherbestimmt. Oder?

      Nein, nein, so weit will dann auch Hülsmann nicht gehen. Immerhin hängt das wertvolle Stück griffbereit an einem dicken Haken neben seiner Wohnungstür. Ist er nicht mehr da, gibt es auch Hülsmann nicht. Der lässt sich dann im Mantel auf seinem dicken braunen Ledersessel nieder und betrachtet die Welt aus der Ferne. Entrücktsein, nennt er seinen Zustand selbst. Oder Kontemplation in Zeit und Raum!

      So also ist es mit Hülsmann. Von wegen, dass er es zu nichts bringt. Da kann die Kaderleiterin an der Volksbühne noch so sehr das Gegenteil behaupten. Und was heißt das schon, es zu etwas bringen. Das Leben schreibt seine eigenen Aufgaben, sagt Hülsmann, wer sie löst, ist erlöst.

      Also doch!

      Was?

      Ein komischer Vogel.

      Nun also Katharina. Schöner Name, wenn man so will.

      Ist ja auch eine Schönheit, sagt Voss. Die langen schwarzen Haare, lockig bis zur Schulter. Das Gesicht, naja, schmal mit hellen aufgeweckten Augen und großen weißen Zähnen. Also doch, eine Schönheit.

      Jedenfalls was man sieht.

      Der Hülsmann sieht mehr. Und kann sich trotzdem nicht beschweren. Warum auch. Katharina ist schon was Besonderes.

      Ja, ohne Widerrede.

      Mein Schneewittchen, sagt Hülsmann. Und wie er das sagt, denkt er schon wieder hinter das Wort.

      Vielleicht weil ihm jetzt die Gegenspieler im Kopf herumspuken, die böse Königin und der Jäger. Und natürlich die Utensilien des Bösen: der Spiegel, der vergiftete Apfel, der Haarkamm. Aber vielleicht denkt Hülsmann auch an Schneeweißchen. Ein Begriff, den die Grimm-Brüder ebenfalls verwendet haben und den Hülsmann so gern benutzt. Schon um Schneewittchen ein weiteres Kosewort an die Seite zu stellen.

      Egal, Schneewittchen ist keine verstoßene Prinzessin, sondern Ärztin im Krankenhaus Prenzlauer Berg an der Fröbelstraße. Noch nicht lange, dafür ist sie noch zu jung, aber lang genug, dass sie geachtet ist. Schließlich kann die junge Frau was. Jedenfalls in ihrem Fach der Allgemeinmedizin. Das Studium an der Humboldt-Universität war nicht umsonst.

      Natürlich nicht!

      Geachtet ist sie auch vom Vater, dem Parteisekretär, schließlich ist sie jetzt Einzelkind. Sein Einzelkind, wie er immer vor der Mutter betont.

      Doch das war nicht immer so.

      Katharina hatte einen Bruder. Hatte, weil er tot ist.

      Eine tragische Geschichte, sagt Katharina.

      Und dennoch literarisch, ergänzt Hülsmann. Dabei hat er den Bruder nur einmal gesehen.

      Damals, als er in Uniform im Wiener Café stand, um Katharina abzuholen. Ausgerechnet im WC. Ein Offiziersschüler der Nationalen Volksarmee. Mit Uniform, versteht sich. Schon das war filmreif. Wie er sich ungefragt an den Tisch setzte und bestellte. So als sei er bei der Armee, wo alle zu parieren haben. Oder in einem Restaurant am Fernsehturm. Dort wo die Touristen den Anspruch auf Service mit viel Trinkgeld erkaufen. Peter wusste, wie er sich in Szene setzte. Er kannte seine Wirkung. Nun aber war er mitten im Kiez. Prenzlauer Berg!

      Hier gehen die Uhren anders, sagt Hülsmann. Die Zeit verkriecht sich in den Hinterhöfen der Mietskasernen. Nur um stillzustehen. Denn da findet weder die Sonne noch der Fortschritt hin.

      Aber was ist schon Fortschritt?

      Katharinas Bruder hatte eine eigene Vorstellung von Fortschritt. Und merkte dabei gar nicht, dass er mit seiner Uniform wie ein Fremdkörper wirkte. Erst recht in den heiligen Hallen des WC, die der Boheme vorbehalten sind. Aber schon mit dem Wort Boheme wusste er nichts anzufangen. Dann eher mit der heiligen Halle.

      Das WC eine heilige Halle?

      Warum nicht. Gut, heilig ist vielleicht übertrieben. Hier diskutieren die Leute über sehr irdische Dinge, auch wenn sie gar nicht in die Zeit passen. Aber wer bestimmt das schon, was in die Zeit passt?

      Und eigentlich müsste es heißen, was der Zeit passt. Oder?

      Hülsmann lächelt. Der Zeit passt eben vieles nicht, sagt er. Wie viel es ist, bestimmt derjenige, der die Wecker stellt und die Turmuhren aufzieht.

      Wobei

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