Pappelallee. Andreas H. Apelt

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Pappelallee - Andreas H. Apelt

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Randglossen der Ewigkeit, sagt Hülsmann. Oder noch komplizierter: Parerga und Paralipomena.

      Ein komischer Kauz eben, der Hülsmann, sagt auch Schüller, aber wer ist das nicht, wenn er im Prenzlauer Berg lebt mit seinen heruntergekommenen Mietskasernen, Kulissen an einem Theater schiebt und hofft, selbst einmal das große Theaterrad zu drehen. Vielleicht als Autor oder gar als Regisseur. Aber dazu muss man eben studieren. Und zum Studieren sollte man besser keine Vorladung zur Volkspolizeiinspektion haben. Das gibt immer Ärger. Und jetzt hat er den Ärger, der Hülsmann.

      Noch also sitzt er da in der Schönhauser Allee 22, in diesem Warteraum, und macht sich Gedanken über das Warten. Denn, so denkt Hülsmann, der Warteraum ist eigentlich ein Raum, in dem man gar nicht warten kann, weil die Zeit hier stillsteht. Damit aber widerspricht die Zeit der Form des Wartens, die eine Verlaufsform wäre. Denn sie ist es, die eigentlich vergehen soll, damit das Warten zum Warten wird und das Warten ein Ende hat.

      Typisch Hülsmann, würde jetzt der Graustock sagen, so ein verdrehtes Denken. So typisch wie sein Aufzug, der auch etwas von Theater hat. Ein schwarzer altmodischer Zimmermannsanzug mit Weste und Perlmuttknöpfen. Ein Erbstück vom Großvater. Genauso wie die alte Sprungdeckeluhr, die an einer Kette hängt und aus einer Westentasche herausschaut. Dazu das kragenlose weiße Leinenhemd und der schwarze Hut mit breiter Krempe. Ein Kerl wie ein wandernder Geselle, den das letzte Jahrhundert vergessen hat.

      Aber Hülsmann hat keiner vergessen, auch die Volkspolizei vergisst solch merkwürdige Gestalten nicht. Und auch nicht die anderen Leute, die zwar alle unter Volkspolizei firmieren, aber keine Uniform tragen. Für wen die arbeiten, muss man nicht raten.

      Ist ja selbst dran schuld, sagen die Leute, wenn er so merkwürdig ausschaut. Da stimmt da oben was nicht. Dabei tippen sich die Leute mit dem rechten oder linken Zeigefinger an die Stirn.

      Allein dieser Aufzug macht ihn verdächtig. Und dann sind da noch das schwarze schulterlange Haar und die verkniffenen kleinen Augen, die immer hinter die Dinge schauen.

      Der Hülsmannsche Röntgenblick, sagt Graustock. Typisch.

      Ausgerechnet Hülsmann, der manchmal sagt, was er besser für sich behalten sollte, dann aber wieder alles verheimlicht und jede Bewertung offen lässt. Oder in sein Büchlein trägt, für sich, versteht sich.

      Diese Art Geheimniskrämerei gefällt nicht jedem. Dorian Gray zum Beispiel hätte keine Freude an dem Versteckspiel. Wo kommen wir denn da auch hin?

      Also noch einmal, vier Schritte vor und vier Schritte zurück. Die Schritte hallen jetzt so laut, als wollten sie zur Decke hinaufschreien. Aber in diesen Räumen schreien nicht mal die Schritte. Die Angst liegt wie ein Tuch über den Lauten und Tönen, sie kriecht in die Kehlen und macht die Münder stumm.

      Plötzlich bleibt Hülsmann stehen. Er lauscht. Fremde Schritte! Laut und drohend eilen sie den Gang entlang. Hülsmann kann noch gar nicht die Herkunft orten, da folgt schon eine Stimme. Und dann steht der Mann in der Tür.

      Hülsmann, sagt der Mann, sodass der Angesprochene nicht weiß, ob das eine Frage oder eine Feststellung ist.

      Hülsmann bejaht, entweder aus Instinkt oder dem Gefühl, besser nicht zu widersprechen. Denn diesen Aufforderungen, egal ob Frage oder Feststellung, entgeht man am besten durch Gehorsam.

      Hülsmann, Hans, wiederholt der Mann mechanisch und setzt damit Vor- und Zunamen in die für Akten übliche Reihenfolge. Und er sagt es so, als wäre da noch ein zweiter Mann im Warteraum.

      Aber der zweite Mann hört es nicht. Dorian Gray lächelt nur. Hülsmann nickt.

      Folgen Sie, fordert der Mann und dreht sich auf der Türschwelle. Der Mann hat keine Uniform. Nur eine graue Hose und ein dunkelblaues Jackett mit aufgesetzten Taschen.

      Bestimmt Präsent 20, denkt Hülsmann und sieht die Auslagen in der Schönhauser Allee vor sich. Gleich neben dem Wiener Café. Dort stehen fünf Schaufensterpuppen und die tragen alle graue Hosen und dunkelblaue Jacketts mit aufgesetzten Taschen. Präsent 20, verkündet ein großes Schild. So groß, dass sich Hülsmann schon Gedanken machte, was sich hinter dem Präsent 20 verbergen würde. 20 Jahre, 20 Menschen, 20 Prozent Baumwolle?

      Hülsmann, in der Hand seinen abgeschabten Hut, folgt wortlos dem Mann, dessen Jacketttaschen glänzen. Kunststoff, lächelt Hülsmann, der glänzt immer so. Dabei muss er unweigerlich an den wohl einzigen Werbespruch auf einer der Autobahnbrücken zwischen Berlin und Leipzig denken. Plaste und Elaste aus Schkopau!

      Plaste und Elaste aus Schkopau, wiederholt Hülsmann leise. Der Mann bleibt stehen und schaut Hülsmann mit großen Augen an. Ist was?, fragt er.

      Nein, nein, ganz und gar nicht.

      Dann weiter, befiehlt der Mann.

      Hülsmann zählt die Stockwerke. Im dritten Stock werden die Schritte langsamer.

      Der Mann im dunkelblauen Jackett ringt nach Luft. Gehen Sie voran, fordert er Hülsmann auf. Vielleicht weil er sich an die Vorschriften halten will.

      Hülsmann stockt.

      Na weiter, sagt der Mann und schiebt Hülsmann in den Gang. Der ist so lang wie ein Bergwerksschacht. Am Ende flutet Tageslicht durch eine kleine Öffnung in den Stollen.

      Aus dem frisch gebohnerten Fußboden steigt eine vertraute Geruchsmischung. Es ist der strenge Geruch von Bohnerwachs und einem beißenden Reinigungsmittel. Wenn es auch nur einen Einheitsgeruch in diesem Land gibt, so denkt Hülsmann, dann ist es genau dieser Geruch. Er ist ein Markenzeichen, das man urheberrechtlich schützen müsste. Egal welches öffentliche Gebäude man auch immer betritt, sei es der Kindergarten, die Schule, die Polizei, der Bahnhof oder gar ein Standesamt, alles dünstet diesen merkwürdig strengen Einheitsgeruch aus. Selbst in der Volksbühne, einem Theater, steht dieser Einheitsgeruch in den langen Gängen des Verwaltungstraktes.

      Der Flurboden glänzt im Gegenlicht wie die aufgesetzten Jacketttaschen. Beidseitig des Ganges reihen sich Türen aneinander. Unendliche Türen, die in unbekannte Zimmer führen. Nur die dreistelligen Nummern in schwarzen Plastebeschlägen verraten Unterschiede.

      Hinter den Türen rasseln Schreibmaschinen. Sie stempeln Buchstaben in Papierrollen. Ihre Anschläge sind so flink wie das Trommeln von Regentropfen auf einem Autodach.

      Hülsmann sieht schon die Buchstaben auf mechanischen Füßchen durch die Räume eilen. Erst in Marschkolonnen, dann in Gruppen und Grüppchen. Und er hört sie. Wie das Rasseln von metallenen Ketten, die über einen harten Boden gezogen werden. Gleichmäßig und nur manchmal von einer kurzen Pause unterbrochen. Typisch Hülsmann, dem wieder die Gedanken durchgehen. Oder die Fantasie.

      Aufgeschreckt durch die dröhnenden Schritte im langen Gang, laufen die Buchstaben wild auseinander, um sich hinter Schränken und Heizungen, Akten und Papierstapeln oder unter Linoleumböden zu verkriechen. Andere klettern auf Schreibtische und Schränke, Aktenordner und Ablagen. Dann endet das Klicken und Klacken, das Hämmern und Rasseln. Hülsmann würde jetzt gern ein Buchstabe sein und sich hinter einem Aktendeckel verstecken und abwarten. Aber er ist kein Buchstabe. Kein A und kein Z. Nicht mal ein H, wie Hans.

      Halt, sagt der Mann hinter ihm. Es ist die Tür 328.

      Der Mann ballt die rechte Hand zu einer Faust und schlägt mit den spitzen Fingerknochen entschlossen gegen die Tür. Dann tritt er einen Schritt zurück. Zugleich legt er seine linke Hand fest um Hülsmanns Oberarm. Der Zugeführte wehrt sich nicht.

      Moment,

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