Der Muttermörder mit dem Schal. Bernd Kaufholz
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„Was ist denn los? Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt der Wohnungsinhaber. Doch noch leiser als beim ersten Mal flüstert Tylle nur: „Mein Gott, mein Gott, helfen Sie mir. Rufen Sie eine Taxe an.“ Ob denn seine Frau nicht zu Hause sei, will Ocker wissen. Sein Gegenüber winkt nur ab.
Für Ocker ist klar, dass sein Nachbar schwer krank ist und unbedingt einen Arzt braucht. „Kommen Sie erst einmal herein“, sagt er und will Tylle dabei stützen. Denn es sieht so aus, als würde der Mann jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch als Ocker ihn am linken Arm berührt, verzieht der 56-Jährige schmerzvoll das Gesicht und wehrt ab. Er stützt ihn deshalb am rechten Arm. „Warten Sie hier, ich hole Hilfe“, sagt Ocker, nachdem er ihm auf einen Stuhl im Korridor geholfen hat.
Dann läuft er zur Ecke Immermann-/Olvenstedter Straße. Doch der Apparat in der Telefonzelle funktioniert nicht. Ocker kehrt ins Haus zurück und klingelt bei Tischlermeister Grote*, der ein Telefon besitzt. Der Taxidienst ist hoffnungslos überlastet, innerhalb der nächsten Stunde sind alle Wagen belegt, so die Auskunft. Auch beim DRK und bei der Unfallstelle hat er kein Glück. Da er keinen Einweisungsschein in ein Krankenhaus besitzt und auch kein Unfall vorliegt, fühlen sich beide Stellen nicht zuständig.
Wieder zurück in seiner Wohnung, teilt er dem Nachbarn mit, dass er keinen Erfolg hatte. „Ich versuche es selbst“, Tylle steht schwankend auf. „Können Sie mir die Treppen hinunter helfen“, bittet er. Ocker fasst ihn erneut unter den rechten Arm und stützt ihn von der zweiten Etage bis vor die Haustür. Tylle will von der Immermannstraße aus ein Taxi rufen. „Der Apparat ist gestört“, klärt ihn Ocker auf. „Dann versuche ich es beim Tischlermeister“, antwortet Tylle.
Sie gehen über den Hof zum Hinterhaus. Doch bevor sie die Treppe zur ersten Etage nehmen können, verlassen den Nachbarn die Kräfte. Er sinkt auf die Stufen: „Es geht nicht mehr.“
Während sich Tylle ausruht, klingelt Ocker zum zweiten Mal an der Tür von Tischler Grote. Als ihm geöffnet wird, erklärt er, dass sein Nachbar noch einmal selbst telefonieren wolle. Wenig später kommt Tylle. „Bitte rufen Sie Frau Doktor Rackowicki* an. Die Nummer steht im Telefonbuch“, bittet er Ocker. Doch nur der Ehemann der Ärztin meldet sich: „Meine Frau ist nicht zu sprechen“, sagt er kurz angebunden, offensichtlich verärgert über die Störung am Heiligabend. Tylle nimmt Ocker den Hörer aus der Hand: „Herr Doktor, bitte, bitte, bitte, holen Sie Ihre Frau an den Apparat.“ Weil er zu schwach ist, gibt er den Hörer erneut seinem Nachbarn. „Herrn Tylle geht es sehr schlecht“, sagt dieser. „Bitte holen Sie Ihre Frau an den Apparat.“ Doch der Gesprächspartner meint, dass für solch einen Fall die Ärztebereitschaft zuständig sei und legt auf.
Bevor sie auf die Straße gegangen waren, hatte Ocker seinem Sohn Eberhardt und seiner Tochter Heide aufgetragen, ein freies Taxi anzuhalten. In jenem Moment, da das Telefongespräch beendet ist, ruft der 17-Jährige über den Hof: „Vati, ich habe ein Auto.“ Vor dem Hauseingang wartet ein schwarzer EMW vom VEB Taxi.
Tylle steigt in das Auto. „Können Sie mich in die Klinik begleiten?“, fragt er seinen Nachbarn. Doch der lehnt ab. „Der Fahrer hilft Ihnen schon weiter. Ach, übrigens, haben Sie genug Geld einstecken?“, will Ocker wissen. Der Gefragte nickt.
Der Taxifahrer bringt Tylle zur Medizinischen Akademie in der Leipziger Straße. Dort schaut sich der diensthabende Arzt den linken Arm des 56-Jährigen an. In der Ellenbeuge stellt er eine sechs Zentimeter lange und einen Zentimeter tiefe, stark infizierte Schnittwunde fest. Der Bereitschaftsarzt will wissen, wie sich Tylle die Verletzung zugezogen hat. Doch der Angesprochene schüttelt nur den Kopf. Erst als der Mann in Weiß nicht locker lässt, gibt der Patient an, dass er sich die Verletzung mit einem Messer selbst zugefügt habe. Dem Mediziner ist klar, dass die Wunde schon zwei bis drei Tage alt ist und Tylle eine Menge Blut verloren hat. Da der Mann einen verstörten Eindruck macht und sein Gesicht laufend hinter dem Arm des Pflegers verbergen will, stellt der Chirurg den Verletzten in der Nervenklinik vor. Tylle wird stationär aufgenommen.
Am zweiten Weihnachtstag wollen Doris Klose* und Marlis Sirr* Familie Tylle besuchen. Die 19 Jahre alte Doris ist die Tochter von Irmgard Tylle*, die 16-jährige Marlis die Nichte.
Sie klingeln mehrmals an der Tür der Tylles, doch niemand öffnet. Da den beiden die Sache seltsam erscheint, fragen sie im Haus nach, ob jemand weiß, wo sich das Ehepaar befindet. Dabei erfahren sie, dass eine Mieterin im Besitz eines Ersatzschlüssels ist. Zu dritt gehen sie wieder die zwei Etagen zur Wohnung der Tylles hinauf. Die Frau schließt die Tür auf, und sofort verschlägt ihnen ein beißender Geruch den Atem. Schon vom Flur aus sehen sie durch die offen stehende Tür zum Zimmer der Tylles eine Tote im Doppelbett liegen.
Die Frauen laufen entsetzt auf die Straße und dann zum Olvenstedter Platz. Dort treffen sie auf den Verkehrspolizisten Domagalla. „Meine Mutter ist tot“, spricht Doris Klose den Polizeimeister atemlos und völlig aufgelöst an. „Sie liegt tot im Bett. Kommen Sie schnell mit.“
Domagalla informiert um 15.30 Uhr das Magdeburger Polizeikreisamt. Wenig später ist Polizeimeister Röpke von der Kriminalabteilung AK/1 vor Ort. Er schaut sich im Zimmer um. Die Tote liegt, bis zum Hals zugedeckt, im Bett. Das Bettzeug, besonders das Kopfkissen, ist völlig mit Blut überzogen. Neben dem Bett steht eine Waschschüssel voller Blut. Auf dem Tisch sieht der Polizist eine weiße Kunststoffschachtel mit blutigen Fingerabdrücken. In der Schachtel sind Rasierklingen – ebenfalls blutig.
Während er auf die Morduntersuchungskommission der Bezirkspolizeibehörde wartet, befragt der Kriminalist bereits eine erste Mieterin des Hauses. Ilse Vorndran* erinnert sich, dass sie den Ehemann der Toten, Walter Tylle, am 23. Dezember gegen 18.30 Uhr das letzte Mal gesehen hat. „Er hat bei mir geklingelt und sich nach der Uhrzeit erkundigt“, sagt sie. Etwas Besonderes sei ihr nicht aufgefallen. „Frau Tylle habe ich schon längere Zeit nicht gesehen.“
Gegen 17 Uhr treffen Mordkommissionschef Oberleutnant Winter und Sachbearbeiter Oberleutnant Schmidt am Tatort ein. Sie sehen sich sorgfältig um, besonders auffällig scheint ihnen ein tellergroßer „dicker Blutkuchen“ in einer Emailleschüssel unter dem Stuhl neben dem Bett. Der hinzugezogene Arzt hält es für möglich, dass die Unmengen von Blut im Zusammenhang mit einer illegalen Abtreibung stehen könnten.
Auch in dem 16 Quadratmeter großen Raum, mit den Fenstern zum Hinterhof, findet sich Blut, wohin die Ermittler auch blicken: zwischen Bett und Stuhl dick gewordenes, fast schwarzes Blut – an der oberen Seitenkante des Holzbetts, am blauweißen Kopfkissen, das neben dem Bett liegt, am Bettlaken.
Auf dem Tisch entdecken die Polizisten einen karierten Schreibblock. Auf der ersten Seite steht mit blauer Tinte geschrieben: „Fresko Sonett an Christine S.“
Es folgen einige Strophen und das Gedicht endet mit den Worten:
Aus dem gebrochenen Herzen fühl ich fließen,
mein heißes Blut, ich fühl mich ermatten,
und vor den Augen wird’s trüb und trüber.
Und heimlich schauernd sehn’ ich mich hinüber
nach jenem Nebelreich, wo stille Schatten
mit weichen Armen liebend mich umschließen.
„Was will der Schreiber damit sagen?“, fragen sich die Ermittler. „Ist das ein verklausulierter Abschiedsbrief? Und wenn ja, wer hat ihn geschrieben? Und wo ist eigentlich der Ehemann der Toten?“
Die Männer der Mordkommission fahren zur Zerbster Straße. Dort wohnt die Mutter der Toten. Frieda Sirr* weiß nichts von einer Schwangerschaft