Der Muttermörder mit dem Schal. Bernd Kaufholz
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Nachdem er die Mordtat erneut geschildert hat, klärt er auch das Rätsel des „Fresko Sonetts an Christine S.“ auf. „Ich habe es acht bis zehn Tage vor dem schlimmen Vorfall geschrieben. Ich habe das Werk in einem Heine-Buch gefunden und wörtlich abgeschrieben. Mit der Tat hat das Schreiben überhaupt nichts zu tun“, beteuert er.
Nachdem die Morduntersuchungskommission den Fall so gut wie abgeschlossen hat, bittet Tylle Anfang Februar 1960 die Gefängnisleitung um eine weitere Unterredung mit den Kriminalisten. Doch was er am 8. Februar Oberleutnant Schmidt mitzuteilen hat, ist für das Verfahren kaum von Bedeutung. Es geht ihm darum, „seine Person in das richtige Licht zu rücken“. Deshalb schildert er dem Polizisten ausführlich seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse.
Zum Schluss fällt ihm noch eine „Kleinigkeit“ ein: „Der Hammer lag nicht im Werkzeugschrank, sondern auf einem Schränkchen in unserem Zimmer.“ Nach der Tat habe er ihn jedoch in den Werkzeugkasten im Klo zurückgelegt.
Das nervenfachärztliche Gutachten spricht auf 23 Seiten von einer „gemütslosen, bindungslosen, brutal-rücksichtslosen, des Mitleids unfähigen und expansiven Persönlichkeitsstruktur“. Außerordentlich bemerkenswert sei im Zusammenhang mit der Tat, dass Tylle zwei Tage neben der Leiche seiner Frau im Bett liegen geblieben ist.
„Der anfängliche Verdacht, dass schizoide Züge vorliegen könnten, hat sich nicht bestätigt.“ Ebenso wenig die Annahme eines krankhaften Eifersuchtswahns. Die Voraussetzungen des Paragraphen 51 (Schuldunfähigkeit oder eingeschränkte Schuldfähigkeit) liegen daher nicht vor.
Am 5. Mai 1960 beginnt vor dem II. Senat des Bezirksgerichts Magdeburg der dreitägige Prozess gegen Walter Tylle. Fünf Zeugen und vier Sachverständige werden gehört.
Dabei geht es auch noch einmal um die angebliche Alkoholsucht des Opfers. Doris Klose, die Tochter der Toten, schildert, wie sie von Tylle auf dem Weg zur Arbeit „abgefangen“ worden war. „Er beeinflusste mich, mit ihm zur Trinkerfürsorge zu gehen.“ Ihre Mutter habe zwar ab und zu getrunken, „aber nicht stark. Sie konnte nur nichts vertragen.“
Heinrich Moll* von der Alkoholikerberatungsstelle, der am 25. November 1959 von Tylle und seiner Stieftochter aufgesucht worden war, hatte kurz darauf ein Gespräch mit Irmgard Tylle geführt und auch Erkundigungen über sie eingezogen. „Wir haben nicht feststellen können, dass Frau Tylle Trinkerin ist.“
Auch Kurt Raps*, Abteilungsleiter der HO-Gaststätten, stellt Irmgard Tylle ein gutes Zeugnis aus. Getrunken habe sie nur in dem Maße, wie es alle tun, die im Gaststättengewerbe arbeiten, lautet seine nicht ganz eindeutige Aussage.
Am 9. Mai 1960 spricht Richterin Krug den Angeklagten schuldig und verurteilt ihn zu lebenslangem Zuchthaus. Im vorliegenden Falle sei von der Todesstrafe abzusehen, führt sie aus, weil „in unserem Arbeiter- und Bauernstaat feste gesellschaftliche Verhältnisse bestehen und unsere Gesellschaft stark genug ist, derartige Verbrecher so zu isolieren und sie durch eine lebenslange Zuchthausstrafe von weiteren Verbrechen abzuhalten“.
Tylle legt gegen das Urteil Berufung ein, es solle ihm Gelegenheit gegeben werden, „Entlastungszeugen“ ausfindig zu machen, die aussagen, was er bisher geleistet habe und was er für ein Mensch sei. „Außerdem liegt mir daran, den Tathergang richtig zu schildern.“ Das Oberste Gericht der DDR lehnt den Antrag am 31. Mai 1960 als „offensichtlich unbegründet“ ab.
Am 31. Januar 1978 wird der nunmehr 75-Jährige nach seiner Begnadigung durch den Staatsrat der DDR in ein Magdeburger Pflegeheim entlassen.
Der Tote vorm Lokal
„Verwerfliche Tat“, unter dieser Schlagzeile berichtet die Magdeburger „Volksstimme“ am 28. Dezember 1962 über ein Kapitalverbrechen, das sich eine knappe Woche zuvor im Altmarkdorf Fleetmark ereignet hatte. Zu diesem Zeitpunkt sitzt der 29 Jahre alte Täter bereits in Untersuchungshaft und hat die Messerstiche gegen einen 22-Jährigen gestanden. Doch war es Totschlag oder Körperverletzung mit tödlichem Ausgang? Eine Frage, die die Instanzen vom Kreisgericht Salzwedel bis zum Obersten Gericht der DDR zwei Jahre lang beschäftigen wird.
Sonnabend, der 22. Dezember 1962. Walter Buckow* beginnt seine Arbeit im Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieb für landwirtschaftliche Erzeugnisse (VEAB) in Fleetmark. Der 29-Jährige schaufelt Getreide um – bis 9.30 Uhr, dann ist Frühstückspause. Im Aufenthaltsraum drehen sich die Gespräche der Sieben-Mann-Runde hauptsächlich um Fußball und Filme.
Als Buckow eine halbe Stunde später gerade seine Brotbüchse wieder einpacken will, kommt der Erfassungsstellenleiter in den Frühstücksraum. Er hat eine große Flasche Weinbrand in der Tasche und lädt die VEAB-Mitarbeiter zum Schnaps ein. Draußen sind es zwölf Grad unter Null und die Arbeiter lassen sich nicht lange bitten.
Als die Flasche um 12 Uhr leer ist, geht ein Kollege los, um Nachschub zu holen – zwei kleine Flaschen Weinbrand. Eineinhalb Stunden später sind auch diese Flaschen geleert. Das „verlängerte Frühstück“ mündet übergangslos in die Mittagspause. Der Lagerarbeiter fährt mit dem Fahrrad nach Hause in den Mühlenweg. Seine Frau hat Spinat mit Spiegelei gekocht.
Da sein Durst noch nicht gelöscht ist, bricht er anschließend zur Bahnhofsgaststätte auf. Sie liegt auf dem Weg zum VEAB. Dort trifft er Hans Büntje*, der im Mantel am Tresen steht. Der junge Mann ist um 14.15 Uhr mit dem Zug aus Stendal angekommen. Die beiden Männer kennen sich vom Sehen und nicken sich zu. Buckow bleibt eine gute halbe Stunde im Lokal und trinkt vier Schnäpse.
Dann fährt er zum VEAB und hilft bis gegen 17.30 Uhr zwei Waggons mit Getreide zu entladen. Das macht eine trockene Kehle. Deshalb zieht es den 29-Jährigen nach Arbeitsschluss erneut in die Bahnhofsgaststätte. Und ihm fällt auf, dass Büntje immer noch an der Theke steht. Buckow trinkt in der Bahnhofswirtschaft zwei Bier und vier, fünf Schnäpse. Dabei kommt er mit dem Stendaler ins Gespräch.
Der 22-Jährige will seine Eltern im Nachbarort Lübbars, einem Ortsteil von Kerkau, besuchen, ist jedoch in der Kneipe hängen geblieben. Der junge Mann, der im Reichsbahn-Bauzug in Stendal arbeitet, gilt als „gut erzogen“, aber auch als Mensch, der „öfter mal tief ins Glas schaut“, wie der Kerkauer Bürgermeister später einschätzt. In angetrunkenem Zustand werde Büntje „reizbar und anzüglich“. Doch nüchtern gebe es an ihm „nichts auszusetzen“.
Da es im Bahnhof nichts Ordentliches zu essen gibt, schlägt Walter Buckow gegen 19 Uhr vor, in die nicht weit entfernte Konsumgaststätte zu wechseln. „Ich will zwar nach Hause“, sagt Büntje mit schwerer Zunge, „aber ich komme noch mit.“ Die Männer gehen von der Bahnhofstraße den Weg, der über eine kleine Böschung führt, zum Platz vor der Gaststätte.
Buckow betritt den Gastraum als Erster, setzt sich an den dritten Tisch am Fenster und bestellt einen Kaffee und einen Schnaps.
Kurz darauf kommt auch Hans Büntje, der sich draußen noch erleichtert hat, in die Gaststube, mit den drei Vierer- und zwei Achtertischen. Der Angetrunkene knallt seinen Koffer laut auf den ersten Tisch, an dem bereits ein Gast sitzt. Gastwirt Fritz Selm* zieht die Stirn in Falten und ruft Büntje zur Ordnung: „So was gibt’s hier nicht. Benimm dich anständig!“
Doch der Bahnarbeiter scheint die Worte gar nicht aufgenommen zu haben. Er ruft: „Bring mal ’nen Schnaps!“ Doch der Wirt schüttelt den Kopf: „Du hast genug, Junge. Kaffee oder Brause kannste haben.“
Während des Wortwechsels ist Buckow an die Theke gegangen und hat für