Gellengold. Tim Herden

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Gellengold - Tim Herden

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Sand wurden durchgepustet, zurück ins Meer.

      Gebückt fächelte er mit der Hand den aufgewühlten Meeresboden vorsichtig in das Rohr. Mit den Händen tastete er immer wieder den schlammigen Boden neben den groben Felssteinen ab. Er kniete sich hin. Das Meer versank langsam in der Dunkelheit. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er die Positionslichter eines Schiffes kurz vor den Tonnen der Fahrrinne nicht bemerkte. Auch nicht den kurzen Blitz auf dem Boot, als sich der Lichtschein des Leuchtfeuers Gellen in den beiden Okularen eines Fernglases spiegelte. Er stand wieder auf, schaltete den Unterwasserstaubsauger ab. Hatte er wirklich ein Klicken im Kopfhörer gehört? Noch einmal fuhr er mit der Sonde den Boden ab. Im Kopfhörer tickte es wieder.

      Er hörte nicht, wie sich eine Person durch das flache Wasser vorsichtig von hinten näherte, den Arm hob und ihn blitzschnell auf seinen Rücken niederfahren ließ.

      Ein Schlag durchzuckte seinen Körper. Ruckartig richtete er sich auf, spürte zugleich, wie seine Kraft plötzlich schwand. Er verlor das Gleichgewicht, griff sich ans Herz, fühlte den warmen feuchten Fleck und wie jeder Pulsschlag Blut aus ihm herauspumpte. Dann brach er im Wasser zusammen. Er schaute in die dunklen Augen seines Mörders, der immer noch wie erstarrt neben ihm im Wasser stand. Sagen konnte er nichts mehr.

      Seine Hände verkrampften sich im nassen Sand neben der Mauer im Wasser. Etwas Kühles, Glattes, ein Stück Metall griff seine rechte Hand im Todeskrampf. Als Letztes schmeckte er das Salz der Ostsee. Wind kam auf. Landeinwärts.

      Stefan Rieder schaute auf die blühenden Heckenrosen. Sie hatten den schmalen Lattenzaun längst überwuchert. Eine Pferdekutsche mit gelber Plastikplane fuhr in leichtem Galopp vorbei über den brüchigen Beton des Wiesenweges. Ihr Ziel war der Hafen von Vitte. In einer Viertelstunde würde die erste Fähre mit Touristen von Rügen einlaufen. Dann wäre es 9.15 Uhr.

      Nach der Kutsche konnte Stefan Rieder die Uhr stellen. Sie eilte seit Saisonbeginn zu Ostern jeden Morgen ihrem Ziel entgegen. Immer zur gleichen Zeit. Ob bei Sonne, Sturm oder Regen. Egal. Hier auf Hiddensee folgte das Leben der Einheimischen den An- und Ablegezeiten der Fähren von Schaprode und Stralsund. Fiel ein Schiff aus, kam auch gleich der heimliche Tagesablauf auf der Insel durcheinander. Und wie auch immer, die Nachricht von einem Motorschaden auf einer Fähre oder einem Ausflugsschiff verbreitete sich so schnell wie ein Lauffeuer.

      Heute aber ging alles seinen Gang. Denn wie Rieder so versonnen eine halbe Stunde später immer noch aus dem Fenster auf den Wiesenweg blickte, kam vom Hafen her das kleine Elektromobil mit dem Hänger für die Post. Die Fähre war also pünktlich gewesen. Jetzt musste es 9.30 Uhr sein, denn das Ausladen der Transporthänger vom Schiff an Land dauerte immer so zehn Minuten. Die Fahrt hierher, zum alten Postgebäude nebenan, fünf. Und der Blick auf die alte Uhr bewies Rieder – es war Punkt 9.30 Uhr.

      Rieder hatte dagegen noch nicht so richtig seinen Lebensrhythmus hier auf der Insel gefunden. Vor zwei Monaten war er mit drei Koffern in Vitte angekommen. Während die Urlauber von den Pensionsbesitzern und Ferienhausverwaltungen schon am Hafen mit Wagen abgeholt wurden, wartete auf Rieder niemand. Er hatte nur eine Adresse und einen Namen: Malte Fittkau. Bei ihm sollte er sich melden und dort den Schlüssel für seine neue Bleibe bekommen. Übers Internet hatte er ein Kapitänshaus gemietet. Als er dann seine Koffer bis in den Wiesenweg gebuckelt hatte, entpuppte es sich weniger als repräsentatives Objekt, sondern vielmehr als gemütliche Kate mit Schilfdach, versteckt hinter einer gewaltigen wilden Rosenhecke. So konnten Bilder im Internet lügen, aber für Rieder war es Liebe auf den ersten Blick. Das würde ein idealer Rückzugsort sein.

      Malte Fittkau wohnte auf dem Nachbargrundstück und betrieb dort mit seinem Bruder Holm verschiedene Ferienobjekte. Einen Zaun oder eine Hecke gab es nicht und die erste Begegnung mit Malte hatte Stefan Rieder schon einiges über die Mentalität der Hiddenseer erfahren lassen. Reden war nicht Maltes Sache. Er hatte Rieder angeschaut, als würde er auf etwas warten. Seinem Aufzug aus Schifferhemd, Hose, Stiefel – und nicht zu vergessen den Hosenträgern – hatte eigentlich nur noch die Pfeife im Mundwinkel gefehlt, um das Klischee vom Fischer abzurunden. Ihr erstes Gespräch, wenn man es überhaupt so nennen konnte, hatte aus zwei Sätzen bestanden: »Hier sind die Schlüssel. Wo’s steht, haben Sie ja gesehen.«

      Innen strahlte das Haus Gemütlichkeit aus. Unten gab es eine große Stube, eine kleine Küche und eine Kammer mit Waschbecken. Oben unterm Dach ein Schlafzimmer, vom dem ein kleiner Verschlag abgeteilt war, in dem ein Stoffkleiderschrank stand. Es war alles nett eingerichtet mit alten Möbeln. Rieder hatte in das Haus geschaut und sofort seinen Lieblingsplatz erkannt: in der Stube, auf der Eckbank am Esstisch mit dem Blick aus vier Fenstern auf den Wiesenweg von Vitte. Es war eine Art Hochsitz. So waren eben Polizisten. Beobachten war ihr Geschäft.

      Auf einem Zettel hatte Rieder genaue Anweisungen gefunden. Erst einmal hatte er die Sicherungen einschalten, dann das Wasser anschließen müssen. Dazu gab es vor dem Haus eine abgedeckte Grube. Natürlich waren Wasseruhr und Ventile überspült vom Grundwasser. Nach einer halben Stunde des Schöpfens hatte endlich alles freigelegen, doch die Hähne waren nicht zu bewegen. Rieder hatte gerüttelt und sich die Finger wund gedreht, als er vor Schreck fast in die Grube gefallen wäre. Wie aus dem Nichts hatte plötzlich eine Stimme gesagt: »Ich könnte Ihnen auch eine Zange borgen.«

      Als Rieder sich umdrehte, stand Malte Fittkau hinter ihm und hielt ihm schon eine Rohrzange entgegen. Während Rieder die Absperrhähne öffnete, ging Fittkau ins Haus und drehte die Wasserhähne auf, ließ das Wasser laufen, kam wieder heraus, bemerkte: »Wasser läuft. Duschen können Sie bei mir. Eine Duschmarke kostet zwei Euro.« Damit hatte er seine Zange genommen und war verschwunden. Rieder hatte ihm noch »danke« hinterhergerufen, ohne dass Fittkau sichtbar reagiert hatte.

      Das war im April gewesen. Jetzt im Juni stand die Insel in voller Blüte. Hier in Vitte dominierte das Rosa der Röschen. Am Deich zum Bodden leuchteten die roten Blütenblätter des Mohns. Das Hochland hinter Kloster, der Ortschaft im Norden der Insel, erstrahlte im Gelb des blühenden Ginsters. Nachdem der Mai kalt und ungemütlich auf der Insel gewesen war, wärmte seit Tagen die Sonne die Luft und die Ostsee. Das Meer lud mit überraschend lauem Wasser zum ersten Badevergnügen ein. Eigentlich musste sich Rieder langsam auf den Weg machen zum Revier im Rathaus. Dort tat er seit zwei Monaten Dienst neben dem Hauptwachtmeister Ole Damp. Rieder in Zivil, Damp in Uniform. Rieder hatte zuvor als Ermittler in Berlin gearbeitet, doch nun wollte er nur noch Ruhe. Auch war er gesundheitlich nicht mehr so ganz auf dem Posten. Stress und Angst hatten ihren Tribut gefordert. Da war ihm die Stellenausschreibung der Polizeidirektion Stralsund wie ein Wink des Schicksals erschienen. Für Hiddensee suchte man einen Zivilbeamten, der sich der Urlauberbetreuung und Verbrechensvorbeugung widmen sollte.

      Seine Hoffnung hatte sich erfüllt. Statt in verrauchten Berliner Kneipen Dealer oder Zuhälter zu observieren, spazierte er nun über die Inselstraßen und den Strand, machte Touristen darauf aufmerksam, auf ihre Wertsachen zu achten, wies auch schon mal den einen oder die anderen darauf hin, wo die unsichtbare Grenze zwischen Textil- und FKK-Strand verlief. Rieder glaubte, im Polizistenparadies angekommen zu sein, denn die Kriminalstatistik dieser Insel beschränkte sich auf Fahrraddiebstähle und Mundraub an Kirschen und Pflaumen. Höhepunkt war laut Aktenbestand des letzten Jahres eine versuchte Vergewaltigung. Allerdings hatte die betroffene Dame den Slip noch bereitwillig abgelegt, bevor sie sich überlegte, ihren Verehrer doch abzuweisen. Das Verfahren wurde eingestellt. Alles wäre perfekt gewesen, wenn nicht noch Hauptwachtmeister Ole Damp zum Polizeiposten Hiddensee gehört hätte. Damp war ein richtiger Hüne, über eins neunzig, hatte allerdings mit den Jahren auch ganz schön über den Hüften ausgelegt. Sein Gang war schlaksig und wenn er durch die Straßen von Hiddensee patrouillierte, kam seine Uniform schnell in Unordnung. Besonders das Hemd rutschte dann immer wieder aus der Hose.

      Die Verkehrssicherheit der Fahrräder auf der Insel und deren ordnungsgemäße Beleuchtung waren mangels sonstiger Fälle

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