Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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34. Jahr

       … so muss ich weinen bitterlich

       Zeitansage, 35. Jahr

       Pseudonyme der Tümmler

       O blaue, lautlose Nacht

      Abschied von G.

       Nachwort

       ERSTES LUSTRUM

       Abschied von der Tauchstation

      Es dreht sich! In lustvoller Nacht strudelt das Spermatozoon mit delfinähnlichen Schwanzschlägen durch den Gebärmutterteich in den Tubenkanal. Rund dreihundert Millionen Konkurrenten und Mitschwimmer waren innerhalb einer Stunde auf der achtzehn Zentimeter langen Wettkampfstrecke zurückgeblieben und in Vanillesauce ertrunken. Nun schießt der Sieger wie eine Rakete auf die eigelbe Korona zu: Durchstoß, Volltreffer, Zusammenschrumpfen des stäubchenkleinen Zielballons. Im Innern vollziehen sich geheimnisvolle chemische Reaktionen; blitzschnell ergibt sich ein zehnstelliges kodiertes Programm für neues Leben. Nachdem sich die genetische Kordel der Desoxyribonukleinsäure (DNS) aufgedröselt und in Lesezeichen umgewandelt hat, kommt es zur Kernspaltung und ersten Zellverdoppelung.

      Schon am vierten Tage plumpst eine geleeartige Plasmabeere von der Rutschbahn in den Uterustümpel zurück, auf dessen schwammigem Grund sich der Blastozyt einnistet. Wie ein Spielball rollt die Fruchtblase in der zweiten Woche regelwidrig auf die rechte Seite des Dottersacks hinüber und entblättert sich. Die Keimlamelle signalisiert: situs inversus totalis. Bald darauf nimmt sie Sandalenform an, dreht sich um die Längsachse und schwebt bäuchlings in gläserner Amnionhülle. Am Ende des ersten Monats scheint das herzpochende Vier-Millimeter-Wesen Schwanz und Kiemen auszubilden, weshalb es in finsteren Zeiten nicht genau wusste, ob aus ihm Haifisch, Feuersalamander, Igel oder Affe werden sollte. Aber gegenwärtig zweifelt es (trotz raupenartiger Krümmung, die ihm Magen und Darm verdrillt) keinen Augenblick an seiner höheren Bestimmung. In der siebenten Woche vermag es, seine Personalität durch unverwechselbare Fingerabdrücke auszuweisen. Zwanzig Tage später definiert es sich mittels elften Fingers als Männlein, das seine junge Menschlichkeit kundtut, indem es Fäuste ballt und Mamas Innendekoration anpinkelt. Die schönste Zeit verbringt der Fetus, dem der Name Guido zugedacht ist, im fünften und sechsten Entwicklungsmonat. Durch Haarflaum und aromatische Firniscreme geschützt, turnt er schwerelos in der Unterwasserstation des Fruchtsacks, vollführt Saltos, Bauchwellen um die Nabelschnur, Hand- und Kopfstand. Bisweilen nuckelt er am Daumen oder bohrt im Po. Obwohl die feuchtwarme Taucherglocke ständig durchspült wird, ertrinkt er nicht, weil ihn der Sauerstoff-Inhalator der Plazenta reichlich versorgt. Interessiert beobachtet er seine kybernetischen Körpersysteme. Als er nach vierteljährigem Lidverschluss endlich wieder die Augen öffnen kann, hindert ihn feindliche Dunkelheit daran, die rote Brutkammer zu betrachten. Schade, denn transparente Häute ermöglichten ihm sonst einen fabelhaften Röntgenblick auf mütterliche und eigene Eingeweide. Nun vertreibt er sich die Zeit, indem er auf karikaturistisch dünnen Beinchen durch die Geburtsarena dribbelt und sich selbst lautlos applaudiert. Geheimnisvolle Vibrationen im Zwerchfellhimmel der Madonna offenbaren ihm das gleichzeitige Wachstum einer krummnasigen, plattfüßigen Zukunftsgefährtin, worauf er den Schicksalsschicker um Genreparatur oder ein stellvertretendes Brandmal bittet.

      Allmählich spürt Klein Guido, dass er wie Blaualgen aufquillt und in räumliche Bedrängnis gerät. Vom Scheitel seines überdimensionalen Quadratschädels bis zur noch unverkästen Fußsohle misst er jetzt fünfundvierzig unrelativierte Zentimeter. Nachdem er vergeblich die Ellbogen gebraucht hat, um sich erneut Bewegungsfreiheit zu verschaffen, bleibt er schließlich koppheister im nachtschwarzen Uterustunnel stecken. Gefasst nimmt er die Lotos-Yogastellung ein und träumt von exzellenter Anwartschaft.

      Plötzlich scheint es ihm, als seien ungeahnte Teufel los. Die Wände beginnen zu wackeln. Von allen Seiten fühlt er sich eingekeilt, gezerrt, gedehnt. Unsichtbare Gewalten schieben seinen Kopf wie zur Strangulation in den Halsring der Gebärmutter hinein. In angstvoller Wut möchte er schreien, aber das Bernsteinwasser des Amnions füllt knebelgleich seinen Mund. Auf Guidos Drei-Kilo-Körperchen schieben sich immer schwerere Bürden: Dreißig Kilo, vierzig Kilo, fünfundvierzig, sechsundvierzig (nicht mal beim Übergang zur zweiten kosmischen Geschwindigkeit braucht man sein zwanzigfaches Gewicht zu tragen), neunundvierzig, fünfzig Kilo … Anhalten! Aufhören! Gibt es denn gar keine Luke in dieser verdammten Gondel? Oh, könnte er als linksgewundene Kegelschnecke ins Freie kriechen und selbstschöpferisch König sein!

      Er dreht sich. Vor Eintritt der Bewusstlosigkeit wird das verdrehte Menschlein buchstäblich ausgestoßen.

      Der Doktor hebt es in die helle Höhe, findet es leblos und kümmert sich zunächst um die schwach atmende Mutter, die er liebt. Da tritt unhörbar der blaue Reiter in den Raum und nimmt das Kind in den Arm.

       Zeitansage, 1. Jahr

      29. Februar: Während dem praktischen Arzt und Geburtshelfer Dr. Theo Möglich in Paradies bei mittäglichem Glockengebimmel ein Sohn geboren wurde, orgelte der Vesuv und warf glühenden Dreck in Richtung des Golfes von Neapel. Synchron spießten die Zeiger auf dem Berliner Rathausturm eine goldene Zwölf auf, in den Zwiebelköpfen des Heiligen Basilius zu Moskau schlug es vierzehn, die No-Spieler von Tokio umtanzten zwanzig Magnolienblüten, und im New Yorker Singer-Building schnarchte der Sechs-Uhr-Wecker. Gleichzeitig wetteiferten im Nordischen Institut drei Atomphysiker miteinander, jeweils aus einem einzigen Auge wie schläfrige Krokodile die Mikrowelt anzuglotzen, weil sich nur auf diese Weise Ort und Impuls flitzender Strahlenstäubchen messen ließen. Konzentrierter Doppelblick hingegen ergab Unklarheit. – Auf der hauptstädtischen Rennstrecke startete unterdessen ein torpedoförmiges, geflügeltes Spezialauto, aus dessen Heck wie gebündelte Räucheraale zwei Dutzend Düsenstäbe herausragten. Nachdem der Steuermann die Rakete gezündet hatte, raste der Kraftwagen aus einer Dampf- und Gestankwolke auf die Zwei-Kilometer-Zielscheibe zu, an der er ein Rekordtempo von 230 km/h erreichte; außerdem einen Rekord der Betriebskosten, dreitausendmal über normal liegend. Dennoch halten es Experten für möglich, dass heute die Fortbewegungsart der Zukunft erprobt wurde.

       Unschärferelationen

      Zur Freude der Eltern benahm sich der Säugling korrekt und gemäß den Lehrbüchern in der väterlichen Bibliothek. Rund um die Uhr verpennte er zwanzig Stunden. Sobald er erwachte, protestierte er (tränenlos weinend) gegen sein Geworfensein in das Diesseits, bis er sich mit Klimmzug an eine heranflatternde Hand schmiegen konnte: Fabelhafter urmenschlicher Klammerreflex, erstaunlicher Fußgreifeffekt! Nun hüpfte der Knabe, zwischen dessen Schultern ein bienengroßes Muttermal prangte, wassertretend im emaillierten Heimteich oder züngelte hingebungsvoll an mütterlichen Papillen. Ein paar Tage lang sabberte aus seiner eigenen Brust etwas Milch, ohne ihn zum Selbstversorgertum anzuregen. Bisweilen gewann er den Trost traumloser Deltawellen, indem er aus der Daumenpraline Lethe lutschte und reibungsenergetischen Schotengeruch genoss.

      In der siebenten Existenzwoche erfreute er seine Eltern durch eine tägliche Stimmband-Kräftigungsstunde. Das bescherte ihm die Erfahrung

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