Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher страница 5
Im nächsten Spätsommer, 10. September: Die versammelten Leute im Berliner Sportpalast erwarteten weder Eishockeyspiel, Boxkampf noch Sechs-Tage-Rennen, sondern die Wundershow der Schowis. Violette Wandbespannungen, „Heiligen“-Bilder und gedämpfte Lichteffekte schufen eine Stimmung wie vor katholischem Messopfer oder theatralischer Gralsfeier. Mit einem Male flammten Jupiterlampen auf. Fahnenschwenken, Trommelwirbel und Fanfaren kündigten die närrische Hauptattraktion des Münchener Zirkus Krone an, den Boss Ahi, der im Redesport innerhalb einer Woche den Rekord von zwanzig dreistündigen Lall-Monologen aufgestellt hatte. Nach bejubeltem, forschem Erscheinen legte der Kehlkopfathlet seinen Feldherrnmantel ab und grüßte, wobei er die rechte Hand wie eine Fliegenklatsche schlenkerte. Dann feuerte er aus dem Terzerol einen Schuss ab und trat ans Mikrofon. Mit rau-gutturaler Stimme rief er: „Elendes Gesocks!“ – Am folgenden Morgen berichtete die nationale Presse, jede Losung sei mit „stürmischem Beifall“ bedacht worden. In der Tat beklatschte das Publikum die staunenswerte Begabung des Bosses, stundenlang Spruch an Spruch zu reihen und heilig-nichtssagend die Üppigkeit seines „Genies“ darzutun. Wie ein Hypnotiseur wiederholte er eindringliche Formeln: Schandbares Unrecht sei einem Volke geschehen. Schandbuben und vaterlandslose Verbrecher hätten die Ehre des Volkes verkauft. Wie ein Mann aufstehen müsse das Volk gegen „schurkische Ehrabschneider, Weltverjudung und bolschewistische Versauung“. Während Ahi diese Reizworte in die Menge schleuderte, trommelte er mit den Fäusten aufs Pult und gelangte auf einen Höhepunkt. „Attacke!“, brüllte er unvermittelt. „Zickezacke, Heil!“, schrien die Schowis im Chor. „Attacke – Zickezacke!“ Dreimal reproduzierte sich das erprobte rituelle Responsorium, in dem die Getreuen eine Weltkriegsreminiszenz des Erretters oder einen hochkünstlerischen Raptus vermuteten. – Kurze Verschnaufpause! In dem Bewusstsein, dass er sich an eine gebildete, poesie- und philosophiekundige Nation wandte, schmückte der Boss sein Marathon-Kolleg nun mit dichterischen Redeblumen aus. Unerschrocken charakterisierte er die „Kulturkotze“ der bestehenden Republik. Was denn die sogenannten Stars und Intelligenzfatzken des verkommenen Novembersystems vorzuweisen hätten? Nichts als Schweinereien! Stinkenden Romanrotz, üble Nuttendramen und hinterfotzige literarische Gemeinheiten über edelrassige Frauen und Familien. Das müsse anders werden, tobte Ahi und stampfte mit den Füßen. In einer von ihm geführten Regierung würden die Deutschen keine rechtlosen Hottentotten mehr sein, sondern Kämpfer. Infolge der Notwendigkeit kämpferischer Lebensbehauptung gäbe es keinen Unterschied zwischen Krieg und Frieden. Eiskalt müsse ein Revolutionstribunal Köpfe rollen lassen und unwertes Leben zum Gnadentod bestimmen. „Ausrotten!“, grölte er. „Attacke!“ – Vier Tage später wählten achtzehn Prozent des Volkes das verheißene Heil.
Der liebe Gott hat gepetzt
Während Guido auf dem Wallachsofa schaukelte, versuchte die Mutter, ihn für Lebensreize und die psychologische „Einübungstheorie“ zu gewinnen. Mit einschmeichelnden Worten reichte sie ihm Gummiring, Klapper, Klötzchen und Puppe, damit er sich sinnvoll beschäftige. Er nahm das Spielzeug behutsam von der linken in die rechte Hand und warf es nacheinander über die Lehne auf den Boden. Dada flog ins Dada und bestätigte den ersten Grundsatz der Thermodynamik. – Frau Dagmar hob die misshandelten Gegenstände liebevoll auf, streichelte sie und präsentierte sie erneut. Doch jedes Mal beförderte der Knabe das Dargebotene ungerührt und krachend zurück ins Nichtsein. Erledigt! Nun offerierte sie ihm ein Bilderbuch und zwei Münzen mit silbernen Reichsadlern. Scheinbar überrascht schaute Guido auf und prüfte Barschaft und Album. Dann verurteilte er alles zum freien Fall in die Zero-Tiefe. Ein unheimliches Benehmen! Offenbar übte er den Umgang mit der Dingwelt, indem er sie degradierte.
Theo fand das in Hinblick auf eine gewisse Philosophie sehr klug: Ob denn das kindliche Tun nicht genau das symbolisiere, was gescheite Erwachsene heute über das Dasein dächten? Die Mutter hingegen meinte, niemand könne es sich gegenwärtig leisten, Geld in die Gosse zu schütten. Um des Weiterlebens willen müsse man die sogenannte Wegwerfwelt wenigstens mit der Gier auf Neues betrachten. – Selten hatte sie ihren Mann derart unmanierlich lachen sehen.
Wenige Tage später erlebte sie jedoch die Genugtuung, dass sich Guido durchaus für seine Umwelt interessierte, und zwar auf dem Umweg über die Sprache. Da sich bestimmte Objekte beim besten Willen nicht wegschieben, bestimmte Antworten nicht schadlos verweigern ließen, begann er allmählich, über das universelle Dada-Hoheitsgebiet hinaus Bezeichnungen zu erfragen. Immerhin schien es nützlich zu sein, das eigene Subjekt, vertraute und fremde Personen, Auffälliges und Erwünschtes benennen zu können. Durch Fingerzeige und forschend-forderndes „Was?“ bemächtigte er sich zunächst einer Hundertschaft von Hauptwörtern, wodurch diese überraschend ihre Hauptsächlichkeit einbüßten und Dienst tun mussten in seinem Sprachgebäude. Er brauchte sie nur zu rufen, und sogleich bewies ihr promptes Erscheinen eine ihm rätselhaft verliehene Vollmacht. Das war komisch und verführerisch zugleich. Lange glaubte er an das fantastische Einerlei von Worten und Wesenheit, weshalb er recht viele Begriffe zu ergreifen suchte.
Die Sprachleine erwies sich auch als Orientierungshilfe, als er erste, torkelnde Schritte durch das Zimmerlabyrinth wagte. Auf An- und Notrufe kam jedes Mal ein beruhigendes, unterrichtendes Echo. Im Seemannsgang und bald in ekstatischem Tanz bewegte sich Guido an Stubenkulissen vorbei und in Möbelhöhen, um die dritte Dimension zu erkunden. Er drang buchstäblich vor bis zum Grunde des Hausrats. Geschwind wie ein Dieb räumte er Schubladen, Regale und Schrankfächer aus und fand enttäuschend begrenzte Leere. Papierkörbe und Mülleimer leerte er; Blumenvasen kippte er um; aus Kissen schüttete er Eiderdaunen; Bücherbände ließ er kurzweilig herunterpurzeln von Borden, deren Höhlen zum Hineinkauern und meditativen Studium des Nichts verlockten.
Da Frau Dagmar die lebhafte Praktizierung der Einübungstheorie und die Neuverteilung des Wohnungsinventars selten rechtzeitig gewahrte, bemühte sie sich, das Erkenntnisstreben ihres Sohnes zu zügeln, indem sie ihm das Märchen vom lieben Gott erzählte, der alles sehe. Guido erkundigte sich nach dem Aufenthaltsort des unerwarteten Aufpassers. „Ist er da drin? Oder dort?“ Obwohl der Himmelschef (nach Auskunft der Mutter) auf Erden ungefähr so herumflog wie Licht und Wind und aus Zimmerwinkeln duftete wie Dr. Möglichs Zigarrenrauch, vermutete der Knabe, dass sich Gott vor allem in jenem hochnäsigen, goldgelben Brummkreiselkopf über der Buchwand verberge. „Aber das ist doch Goethe!“, bemerkte Mama amüsiert. „Wenn dein Vater ein dickes Buch schreibt, baut man ihm vielleicht auch so ein Denkmal.“
Schon am nächsten Tag gelang es Guido, mittels Tisch und Sessellehne zum geheimnisvollen Aussichtsbrett emporzuklimmen und sich in schwindelfreiem Balanceakt dem glänzenden Haupt zu nähern. Hier oben konnte der heilige Spion nicht beiseite gucken, weshalb es glücken musste, ihm ein Taschentuch über die Augen zu werfen. Doch im letzten Moment passierte ein Malheur. – Als die Mutter den schweren Bronzegong hörte und alarmiert herbeilief, rief ihr das Büblein kleinlaut entgegen: „Ja, ja, nun hat dir der liebe Gott gepetzt, dass ich ‚Töte‘ runtergeschmissen hab.“
Die Regierung mit Gottes Hilfe bewährte sich nur vorübergehend, denn zu Beginn des dritten Lebensjahres machte Guido