Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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fanden die Herren in der hinteren Gondelwand einen kleinen Riss, den Piccard mit Textilfäden und Vaselinecreme abdichtete. „Hoppla“, sagte er. „Journalisten sind öppe ahnungsvolle Leute.“

      Nun prüfte er Uhr und Barometer und erstaunte. Obgleich der Aufstieg erst vor einer halben Stunde begonnen hatte, stand die Quecksilbersäule bei 80 Millimeter fest. Demnach musste der Ballon so schnell wie ein guter horizontaler Kurzstreckenläufer vertikal in die Stratosphäre emporgeschossen sein, nämlich mit der Durchschnittsgeschwindigkeit von 9 m/sec. Aus der bisher unerreichten Rekordhöhe von 15 500 m schauten die auf Körben sitzenden Forscher nach oben und unten und gewahrten: schwarzblaues Firmament mit praller Aerostatkugel, kontrastarme Landschaft, Alpakaband des Lechflusses, Alpengipfel und in Richtung der fernen Adria eine Dunstglocke. Nach kurzer Überlegung entschlossen sie sich dazu, Ballastschrot abzuwerfen und noch einen halben Tausender weiter zu steigen. Während draußen das Barometer allmählich auf 76 Merkurius-Millimeter absank, machte sich drinnen eine sehr lästige Zunahme der Luftfeuchtigkeit bemerkbar. Zwar wurde das ausgehauchte Kohlendioxyd durch Kalipatronen absorbiert und der Sauerstoff aus Sprühkanistern künstlich ersetzt, doch der Atemdampf schlug sich an Kabinenwänden und Apparate-Isolationen nieder und beeinträchtigte die Funktionstüchtigkeit der Instrumente erheblich. Das vorgesehene wissenschaftliche Programm ließ sich jetzt kaum noch erfüllen. Lediglich der Geiger-Müller-Zähler tickte unablässig und zeigte ionisierte Strahlung an. – Als die Gondel in den Einfallswinkel der Sonne geriet, schob sich die Silbermine des Thermometers rasch auf 32 Grad empor, weshalb Piccard Vorbereitungen zum Abstieg traf. Um 9 Uhr 45 griff er zur Manövrierleine, um im Zenit des Ballons ein Ventil zu öffnen. Aber das Seil ließ sich nicht bewegen oder niederholen, so oft er auch daran zog. Das hatte er in knapp zwanzigjähriger Flug- und Forschungspraxis noch nie erlebt!

      „Donnstigs, wir sind Gefangene der Luft“, erklärte er. „Es gibt keine Möglichkeit zur Steuerung mehr. Uns bleibt nur abzuwarten, ob der Aerostat seine Allmacht ausnutzt und uns ins Jenseits entführt, oder ob er gnädig verfahren will. Am besten stellen wir uns erst mal auf Sauna-Verhältnisse ein.“

      Da die Temperatur inzwischen 38 Grad maß, legten die beiden Männer Jacken und Hemden ab, wobei der Professor einen Augenblick zögerte, seine milchweiße, unbehaarte Brust zu entkleiden, bis er bemerkte, dass sich auch Kipfer nicht mit „männlicher“ Mähne zu brüsten vermochte. Im Verpflegungsbeutel suchten sie vergeblich nach Erfrischungsgetränk; offenbar war die Korbflasche vergessen worden, weshalb sie Brot, Hirsebrei und Äpfel trocken hinunterschlucken mussten. Um den Durst zu lindern, leckten sie Kondenswasser von der Aluminiumwand ab.

      Bei alledem gelang es dem jungen Assistenten nicht, seine Erregung zu verbergen. Piccard drehte seine Zeigefinger wie Lockenwickel, ermahnte zur „Haltung“ und dozierte, dass keinerlei Gefahr bestünde, solange der Sauerstoffvorrat reiche, was bei ruhigem Verhalten bis zum Abend der Fall sein dürfte. – Bald darauf boten die Luftschiffer ein denkwürdiges Bild: Mit entblößten Oberkörpern und leicht vorgebeugten Schultern saßen sie einander Knie an Knie gegenüber und spielten Schach. Von den Stirnen tropfte Schweiß, weshalb die Herren ihre Hemden als Wischtücher gebrauchten oder behutsam wie große Fächer hin und her schwenkten. Infolge ihres eingeengten Aufenthaltsraumes von zwei Metern Durchmesser bereitete es ihnen Vergnügen, wenigstens auf dem Karobrett die Läufer, Springer und Türme zügig zu bewegen. Trotz des hochkonzentrierten Figurenturniers (bei dem der ermutigte Kipfer meistens gewann) versäumte es Piccard nicht, pünktlich im Abstand von fünfzehn Minuten Umschau zu halten und festzustellen, dass sich der Ballon noch immer in 15 500 m Höhe befand, wo er seit den Frühstunden am Himmel aufgehängt schien und unmerklich driftete, während draußen 50 Minusgrade und drinnen 40 Plusgrade herrschten.

      Um die Mittagszeit geriet der Kugel-Cockpit, der zum Glück dichthielt und sich als Druckausgleichskabine der Zukunft empfahl, in den Schatten des Aerostaten, wodurch sich die Hitze allmählich verminderte. Später entwickelte der Professor seinem Assistenten die Idee, eine vergleichbare, gut temperierte Tiefseegondel mit Ballastschleusen und Regulierventilen zu bauen. Taucherfahrt zum Grunde des Ozeans! Ferner erörterte er, wie kosmische Strahlen gegebenenfalls auszunutzen und Elemente anzuregen seien, einen Teil ihrer atomaren Kräfte abzugeben. Das würde die gesamte Weltwirtschaft verändern, wobei Kohle und Erdöl nur noch geologisches Interesse hätten. Dann stünden sicher auch Energien zur Verfügung, um ein Luftschiff in erwünschter Weise zu manövrieren.

      „Warum fallen wir nicht?“ Musste sich das tragende Wasserstoffgas nicht längst in der Kühle des Raumes zusammenziehen? Welche Erfahrung galt eigentlich noch in diesen bisher unerfahrenen Dimensionen? Vielleicht würden auch die Sauerstoffspeicher schneller aufgebraucht als berechnet? Schlimme Überraschungen, dachte Kipfer. Ursprünglich hatte man jetzt gemütlich am Starnberger See dinieren wollen, und nun schwebte man schon einen halben Tag lang scheinbar reglos in der Stratosphäre! Unheimlich sachte vergingen die Stunden. Ob möglicherweise das Barometer nicht mehr funktionierte, weil es sich fast gar nicht rührte?

      Sechzehn Uhr, siebzehn, achtzehn, neunzehn Uhr … Die Sonnen-Tomate rollte die Himmelsböschung zum Westhorizont hinab; zwischen Schäfchenwolken hüpfte der Mond wie Eidotter. Erst als das solare Licht gegen zwanzig Uhr in den Glarner Bergen verglühte, begann der Ballon plötzlich zu schrumpfen und zu sinken. Innerhalb weniger Minuten verdoppelte sich der Luftdruck, weshalb sich Assistent Kipfer erschrocken einen bienenkorbähnlichen Schutzhelm überstülpte. Von dem Augenblick an gefiel es Professor Piccard, Kaltblütigkeit zu demonstrieren. Er holte eine Stabtaschenlampe aus der Joppentasche, hielt sie wie ein Mikrofon vor den Mund und sagte: „Gottwilche, liebe Zuhörer der Nachwelt! Möge es gelingen, die Schwingungen meiner Stimme hörbar zu machen, damit Sie narrochtige Kunde erhalten von zwei Aeronauten, deren Gondel gegenwärtig auf die Erde stürzt. Gewiss könnten wir die Geschwindigkeit durch Ballastabgabe bremsen, doch da unsere Sauerstoffflaschen nahezu leer sind, dürfen wir keinen Dilldopp riskieren. Darum lassen wir uns widerstandslos fallen. In 4 500 m Höhe haben wir soeben die Bodenluke geöffnet; aus Spaß sende ich ein paar Blinkzeichen aus. Im Mondlicht erkennen wir unter uns eine hochalpine Landschaft mit Schneegipfeln, Zacken und Steilwänden. Wenn ich nicht irre, sind unsere Chancen wäger ausgezeichnet, an einem Felsen zu zerschellen oder in einer Gletscherspalte z’Platze zu kommen. Hurra, wir plumpsen! Hinein in die Flühe oder die Eislawine! Adieu, geschätzte Nachwelt!“

      Ein langer Arm zog die Reißbahn auf. Dumpfer Gong beim Aufprall. Drei Sprünge der Kugel, in der alles durcheinanderwirbelte. Zusammensacken des Ballons. Absolute Stille.

      Nach einem Weilchen reckte Piccard hinterm Sandsack seinen Lamahals und konstatierte: „Sanfte Landung. Und Sie sind ein Held, Kipfer!“

       Zeitansage, 4. Jahr

      1. April: Während das Statistische Bundesamt mitteilte, dass die Vereinigten Staaten nunmehr in New York, Fifth Avenue, ein 381 m hohes, höchstes Gebäude der Welt besitzen und ferner von 35 Millionen Automobilen der Erde allein 27 Millionen ihr bekömmliches Kohlenoxyd auf amerikanischen Straßen verströmen, gab der Kaiser a. D. von China seinen Entschluss bekannt, bald als Opernsänger zu debütieren.

      15. Mai: Im Vestibül des neuen Bolognesischen Theaters erging an Arturo Toscanini das Gebot: Vor dem geistlichen Konzert ist der Canto dei fascisti zu spielen. Als sich der Dirigent mit der Begründung weigerte, kein echter Künstler könne politische Vorschriften oder Einmischungen dulden, wurde er durch Ohrfeigen und einen harten Jab über neurömisches Recht belehrt. Seitdem befindet er sich in Sicherheitsverwahrung von achtzehn Kriminalisten und vier Karabinieri.

      12. Oktober: Bei einem Kameradschaftstreffen der Aufrechten in Harzburg versprachen die Bankiers eine Verzögerung der wirtschaftlichen Neubelebung, damit die Schowis demnächst als „Bezwinger der Krise“ und „Retter der Nation“ auftreten könnten. Ahi nahm großzügig ein Finanzpaket in Empfang und versprach seinerseits: a) den Konzernherren die rücksichtslose Bekämpfung der Gewerkschaften, b) den Gewerkschaften

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