Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher страница 7
Als er eine Woche später in der stillen Schiffskabine der „Bergenland“ an die turbulenten Tage in der Metropole New York zurückdachte, standen ihm noch immer die gottlob unskalpiert gebliebenen Haare zu Berge. Ojemine, wie aufregend verlief die unscheinbare Erholungsreise eines Naturforschers!
Fürchterliche Erinnerung an Autogrammstunden, Empfänge, Reden an die Nation, Opernbesuche und Stadtrundfahrten. Menschengetümmel wie beim Triumphzug von Old Washington nach der Schlacht von Yorktown. Überall ein spürbares indiskretes Interesse, vermischt mit Sensationslust, weshalb es ihm Spaß machte, dass seine „alte Dame“ mit sichtbehinderndem Sombrero neben ihm thronte. Um die Bewunderer nicht zu enttäuschen, hatte er artistisch seinen schwarzen Filzhut in die Luft geworfen und jauchzend gedankt für Blumengeschosse, die ihm hart ums Haupt schwirrten. – Dann sein unbändiges Gelächter vorm steinernen Ebenbild und Reliefdenkmal an der Riverside-Kirche, wo ihn die Leute umdrängten wie einen Heiligen. Am liebsten hätten sie ihm wohl die bauschige, graumelierte Mähne ausgezupft und ins Reliquiar getragen wie seine ausgetretenen Schuhe, die ihn künftig in der „Halle des Ruhmes“ vertreten sollten.
Am schlimmsten trieben es die Publizisten, Bildreporter und Werbeagenten. Bis zu zwanzigtausend Dollar hatten ihm die verrückten Reklamechefs geboten für zehn Worte über seinen bevorzugten Whisky, Instant-Coffee, Tabak, Bubble-Gum, Deo-Spray oder Rasiercreme. Ungläubiges Staunen, als er seine unzivilisierte Geringschätzung für Bucks und „all diese Dinge“ bekundete. – Schließlich die Massenmeetings und Pressekonferenzen!
Frage: „Wie beurteilen Sie die Deutschen?“
Antwort: „Drollige Leute! Obwohl sie mich für eine stinkende Blume halten, stecken sie mich gerne ins Knopfloch.“
Frage: „Wie ernst nehmen Sie die Drohung der Schowis, beim Machtantritt verhasste Köpfe rollen zu lassen?“
Antwort: „Vorwiegend heiter. Sobald sich Deutschlands Magen füllt, dürften sich die Kassen des Bosses leeren. Ansonsten würde man binnen Kurzem wissen, wie viel mein Gehirn wiegt.“
Frage: „Rechnen Sie demnächst mit einem neuen Krieg?“
Antwort: „Nein. Falls nur zwei Prozent der Wehrpflichtigen die ‚Pflicht‘ verweigerten, besäße keine Regierung genügend Gefängnisse für das Heer der Friedensfreunde.“
Und so weiter und so fort! Meistens verzapften die Interviewer interrogativ Blödsinn, weshalb sie seine Foppereien nicht verstanden und auch nicht die Gegenfrage: „Warum lebt man?“ Heiter-hintergründig erklärte er ihnen: „Um Menschen zu erquicken, von deren Wohlergehen das eigene Glück abhängt.“
Nun fuhr der große Mann (dessen Längenausdehnung im unbeschleunigten Erdsystem allmorgendlich 176 Pariser Zentimeter betrug) als Zeitflüchtling in den Frieden maritimer und kalifornischer Entlegenheit hinein. Bald würde er ungestört den Garten Amerikas und die Wunder des Alls betrachten können. Trotz halber Kontinentumschiffung veränderten sich die Horizonte wenig. Es gab Ausblicke auf das Karibische Meer, auf grüne Küsten, die Bai von Habana mit Palmen und Lorbeerbäumen, die sechs Schleusen des Panamakanals und den ewigen Schnee der Sierra Madre. Als sich die Reisenden Ende Dezember bei Santa Margarita über den Wendekreis des Krebses bewegten, begannen die Wasser des Stillen Ozeans plötzlich zu brodeln. Wie dampfende Kessel oder sprühende Riesentorpedos schwammen hintereinander fünf Dutzend Wale vorüber, die sich auf dem Wege ins Mexikanische Sommerrevier befanden.
Nach knapp zwei Wochen lief der königlich-belgische Schnelldampfer „Bergenland“ in den Zielhafen von San Diego ein. Dort lag einst ein Stück Wilder Westen, und der naturliebende Passagier freute sich auf die provinzielle Stille. In Begleitung von Frau Elsa ging er beschwingt über den Laufsteg an Land.
Da bliesen Trompeter einen Tusch. Im Chor rief es: „Salut für den famosen Professor Einstein!“ Viel Volk strömte herzu. Stadtväter überreichten dem Hohepriester der Wissenschaft Chrysanthemen und einen Begrüßungstrunk. Mit der finsteren Entschlossenheit von Kannibalen umringten ihn Journalisten, die ihre Mikrofone wie Schlagstöcke unter seine Nase schoben und ihn zur Rede stellten.
Stimmengewirr: „Wie gefallen Ihnen die ‚Staaten‘? Lieben Sie Coca, Blues, Lumberjack? Vielleicht einen bestimmten Frauentyp? Was halten Sie von Blondie und Cinema? Finden Sie Berühmtsein schön? Gibt es einen lieben Gott? Erklären Sie bitte in einem Satz die Relativitätstheorie!“
Während die „alte Dame“ erschrocken konstatierte: „Nun sind wir aus dem Wolkenguss in den Wasserfall gekommen“, holte Einstein bekümmert seine Geige aus dem Kasten: Auf dem sonnigen pazifischen Pier spielte er seine Violinpartie aus der Kleinen Nachtmusik.
In einer reservierten Ford-Limousine fuhren die Gäste eilig weiter nach Los Angeles, wo sie im Vorort Pasadena in einem hübschen Bungalow Wohnung nahmen. Obwohl der Gelehrte seit mehr als zwei Lustren überall ungewöhnliches Aufsehen erregte, fühlte er sich durch das Gegaffe noch immer stark belästigt. Andererseits sah er nicht ein, weshalb er sich irgendwelche Zurückhaltung auferlegen sollte, ja manchmal verstärkte er schelmisch die öffentliche Aufmerksamkeit. Zum Beispiel lud er im modernen Selbstbedienungsladen kiloweise frische Erdbeeren und Honiggläser ins Einkaufswägelchen, oder er spazierte in Shirt und Leinenhose durch die Straßen und leckte ungeniert an Eiswaffeln. „Ich stehe Modell“, sagte er.
Bereits am zweiten Tage des Aufenthalts rollte er im Caltech-Chevrolet auf langer, gewundener Chaussee ins gebirgige Amphitheater hinauf, um sich in 1 700 Meter Höhe das größte Spiegel-Schauspiel der Erde anzugucken. Die Mitarbeiter des Mount-Wilson-Observatoriums empfingen den prominenten Ankömmling sehr respektvoll. Dieser schon mit fünfzig Jahren legendenumwobene Mann war für die meisten von ihnen gleichsam ein verkörpertes Energie-Gesetz, der spekulative Weltgeist in Person, und einige Verehrer fürchteten, dass sie seinen wissenden Blick nicht zu ertragen vermöchten. Auch der Chefastronom hatte ein wenig Lampenfieber, doch in Gedanken an ein erprobtes Besuchsprogramm blieb er äußerlich ruhig. So schlug er gleich nach dem Begrüßungszeremoniell einen Rundgang durch die technischen und wissenschaftlichen Einrichtungen des Instituts vor.
Überraschend antwortete Einstein: „Wozu? Das Sichtbare kann ich mir denken. Erzählen Sie mir lieber vom Unsichtbaren, wobei wir vielleicht wie chinesische Mönche ein bisschen Tee süffeln sollten.“
Im Studierzimmer holte der Gast eine quirllange Tschibukpfeife hervor, ohne sie anzurauchen. Der Himmelsforscher bemerkte erfreut ein gemeinsames „Laster“, zückte seinerseits eine Shagpfeife und bot „prima Virginia-Tabak“ an. Aber Einstein schüttelte den Kopf. „Ich darf nur noch am Mundstück nuckeln wie ein Säugling“, erklärte er mit sanfter, zarter Stimme. „Seit dem Kreislaufkollaps von Anno 28, bei dem ich beinahe abnippelte, überwacht mein Weib peinlich die Einhaltung eines gewissen ärztlichen Gebots. Dankenswert, nicht wahr? Nun werde ich sicher noch die Anerkennung meiner fraulicherseits geschätzten Leistungen als Öffner diverser Konservenbüchsen erleben, denn bisher habe ich mich leider nur als Physiker halbwegs durchgesetzt.“
Der Astronom lachte und sah wohlgefällig zu, wie die Sekretärin den Tee servierte. Vom Nachbartisch holte er einen Stapel charakteristischer Spiralnebelfotos herüber. Da sagte der Besucher unvermittelt: „Der gekrümmte Raum?“
Ein Weilchen schwieg er, weshalb sich der Sternkenner angesprochen fühlte und eine vorsichtige Mitteilung versuchte. „Wir haben uns sehr bemüht, den von der Allgemeinen Relativitätstheorie postulierten kurvenartigen Flug des Lichts im Weltall zu erweisen. Doch es ist ungeheuer schwierig, in den bis jetzt überschaubaren himmlischen Bereichen sphärische und euklidische Geometrie zu unterscheiden. Trotz der Genialität Ihrer Vorstellung