Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher
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Bei Lustfahrten im Korbwägelchen (Vollballonreifen, Durchschnittsgeschwindigkeit 1 m/sec.) entdeckte Klein Guido, wie er seine mobilen Teile in den Bühnenhimmel zu schieben vermochte. Amüsiert betastete er seine Rumpfanhänge, Hände, Finger, Füße und Zehen, die sich selbständig zu machen schienen, ohne dass voraussehbar war, wann es wo strampeln, zucken und rucken würde. Obwohl der Junge unaufhörlich zappelte, ließen sich Lokalität, Wahrscheinlichkeit eines Impulses und Häufigkeitsverhältnis im Bewegungschaos nicht gleichzeitig bestimmen.
Manchmal nahm ihn die Mutter zu sich ins Bett, um ihm das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Dort geschah eines Tages im Halbschlummer, was Martin Luther im Hohen Liede trefflich dolmetschte: „Er steckte seine Hand durchs Loch, und ihr Leib zitterte dafür.“ Als Frau Dagmar es ihrem Mann erzählte, lobte er lachend die ersten Anzeichen genialer Empfindungsart. Sie antwortete: „Wünsche es nicht! Auf Wunderkinder wartet meistens ein früher Tod.“
Zeitansage, 1. Jahr (Fortsetzung)
27. August: Die Metropole der Mode erwies sich an diesem Tage auch als Hauptstadt globaler Diplomatie. „Ewiger Friede“, sagten die Leute am Quai d’Orsay. Nachdem sie den Obelisken des furiosen Ramses gestreichelt und die Concorde-Brücke überschwemmt hatten, jubelten Knickerbocker-Herrchen und bubikopffrisierte Damen in knabenschlanker Garçon-Fashion den Politik-Harmonikern zu, die über eine Freitreppe ins Außenministerium trippelten. Die Silbermine des Pariser Regierungsthermometers kroch gerade bis zum 32. Querstrich der Celsiusskala empor. Punkt fünfzehn Uhr westeuropäischer Zeit versammelten sich die Ressort-Chefs im historischen Horloge-Saal, nahmen am hufeisenförmigen Tisch Platz und bewunderten die Vertragsmappe. Exzellent! Da lag ein typografisches Meisterwerk, auf vier handgeschöpfte Büttenseiten gedruckt und in goldverziertes Saffianleder gebunden. Während der französische Gastgeber die erfolgreiche Bemühung um internationale Aussöhnung pries, tropfte den Repräsentanten der Welt viel Schweiß in Cut und Zylinder, denn von Decken und Wänden strahlten acht Scheinwerfer und vierhundert Kerzen und brannten das Bewusstsein epochaler Wende in die erlauchten Köpfe ein. „Ächtung des Krieges für immer!“, rief der erwärmte Chef des Protokolls. „Toleranz-Esperanto! Nie mehr Streit zwischen uns! Ab sofort gilt das Evangelium des Friedens nebst Befehl an die Menschheit: Liebet einander!“ – Nun begann die Polonaise der erschöpften Delegationen, wobei das Hohe Kollegium jedes Autogramm handfeucht beklatschte. Mit schwarzer Dokumententinte signierten und besiegelten die Staatsmänner von fünfzehn Nationen das Glaubensbekenntnis zur Ewigen Güte. Emphatisch, triefnass und ein bisschen verträumt sangen Amerikaner, Kanadier, Engländer, Franzosen, Deutsche, Polen, Tschechen, Japaner, Australier und Südafrikaner im Chor: „Dona nobis pacem“. Da die Sowjets überraschend Sympathie bekundeten, sah Eirena mit dem Füllhorn plötzlich ein Drittel der Erde zu ihren Füßen liegen.
28. August: Im Goethemuseum zu Frankfurt am Main empfing Doktor Missopo einen berühmten Preis. Er steckte den Scheck des Freien Deutschen Hochstifts ins Brustfach seines Gehrocks, besah seine Remontoir-Uhr und empfahl dem andächtig lauschenden Publikum, keine Zeit zu vergeuden und chaotische Zeiten niemals zu dulden. – Sechs Wochen später begannen in Berlin die Hellen Nächte. Millionen Glühbirnen, bengalische Feuer und Lampions erfüllten die Goethe‘sche Forderung: mehr Licht!
In klassischem Geiste
Nach Meinung von Theo Möglich und Frau Dagmar war ihr Büblein in die beste aller Welten hineingeboren worden. Seit Kurzem lebte man also im gigantischen Universum auf dem einzigen Planeten mit vernünftigem Dasein: in heiterer Helligkeit, frei von Bedrohung, Krise und Krieg. Welche Hoffnung für die Völker und Klein Guido, dem fraglos beneidenswerte Entfaltungschancen offenstanden.
Auf mannigfache Weise suchte der Vater Dispositionen und Begabungen des Sprösslings zu ermitteln. Beim Abhorchen und Abtasten gewahrte er das erstaunliche Phänomen, dass Herz und Milz des Babys rechtsseitig rumorten, während sich die Leber aus verrückter Linkslage meldete. Der Medikus zweifelte keinen Augenblick an der höchsten Bedeutung dieses Naturwunders, zumal die Umkehrsymmetrie möglicherweise auf eine einzigartige Hirnstruktur mit rechtem Sprach- und Schreibzentrum schließen ließ. Nicht einmal Goethe, den man einst nach der Abnabelung „für tot“ befunden wie Guido, hatte eine derart elitäre Organbildung besessen! Hingegen traute der Vater dem klassischen Knaben zu, was er an seinem eigenen beobachtete, nämlich gewitzte Reaktionen bei Pinselstrichen über Augenbraue, Nase und Fußsohle, Kopfnicken in Richtung feiner Flötentöne und eine frühe Fähigkeit zum Aufblasen winziger Spucke-Luftballons. Als die Mutter vom angeblich gezielten Erkenntnislächeln sprach und es zu den Intelligenzleistungen zählen wollte, demonstrierte Theo, wie das Jüngelchen eine abscheuliche Faschingsmaske ebenso fröhlich anlächelte wie ihr Gesicht.
Fortan widersetzte sie sich energisch der Absicht ihres Mannes, das Kind episodisch in einer stummen Zone aufwachsen zu lassen. Er behauptete, wenn Guido keine nachahmenswerten menschlichen Laute vernähme, könne man von ihm eines Tages das Ur-Wort erwarten, das vermutlich Aufschluss gäbe über Sprache und Nationalität der ersten Hominiden. – „Rückständigkeit“, sagte Frau Dagmar verächtlich. Leider verhinderte ihr typisch weibliches Unverständnis die Durchführung des fabelhaften wissenschaftlichen Experiments, was den Doktor verdross, bis sich nach zehn Wochen ein anderes linguistisches Erlebnis anbot.
Der eingeborene Sohn begann zu brabbeln. Obwohl sich seine endlosen Lall-Monologe anfangs so anhörten, als sei er nicht ganz richtig im Kopfe, registrierte der unterscheidungswillige Vater bald eine erstaunliche Klangfülle. Er bemerkte nach- und nebeneinander Vokale, Labiale und Dentale, ferner französische Nasalgongs, englische Lispler, kanarische Pfiffe und sudanesische Schnalzer. Zusammen mit Delfinischen Klicks und hochkomplizierten Gurgel-, Schnupf- und Puptönen verfügte Guido bereits im sechsten Lebensmonat über ein beispielloses internationales Lautrepertoire.
Schließlich entwickelte er aus selbstimitatorischer Virtuosität heraus das Offenbarungswort: Dada. „Na also!“, riefen die Eltern entzückt und ergötzten sich an dieser ersten Manifestation modernen Künstlertums.
In den folgenden Tagen schaute der Knabe mit großen Forscheraugen umher. Gemäß der Goethe‘schen Sentenz von der Begehrlichkeit des „Unendlichen“ streckte er seine Ärmchen nach vorbeifliegenden Vögeln, Sonneninseln und dem Vollmond aus. – Infolge der allmählichen Verdoppelung seiner grauen Hirnmasse fühlte er sich seit der Nebelzeit dazu angeregt, rutschend und kriechend den Wohnraum zu vermessen. An Tür und Schrankwand vorbei robbte er wie durch die glasierte Ziegelschlucht einer altbabylonischen Prozessionsstraße. Jeder Aufblick eröffnete ihm kolossale Dimensionen, weshalb ihm Tisch- und Stuhlbeine erschienen wie Kiefernstämme im Teppichmoos und das Sofa wie ein flämischer Wallach. Über bunt gestreifter Leinenwand lugte ein goldgelber, hochnäsiger Kopf hervor, lustig anzusehen, weil er rumpf- und bewegungslos auf einer Art Brummkreisel thronte. Neben ihm stand plötzlich giraffenlang die Mutter. Sie kickte zwei Bauklötze, die Guido betastete und beroch, bevor er sie wie High-Hat-Becken ergriff und in schnellem Rhythmus gegeneinanderschlug.
Zum Winteranfang summierte Dr. Möglich den bisherigen Nahrungsverbrauch des Babys. Dabei fand er es bemerkenswert, dass außer Milch, Haferschleim, Zwiebackbrei, Zucker, Obst- und Gemüsepapp auch 10 Gramm Kinderpuder, 7 Gramm Erde, 2 Gramm Haare und ein Wäscheknopf zu bekömmlicher Verköstigung gedient hatten.
Zeitansage, 2. und 3. Jahr
24. Oktober: Als die Jobber und