Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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und jüdisch-bolschewistischen Internationalismus. „Attacke!“, rief der Boss. „Entweder wählt ihr mich – oder das Chaos.“

      ‚Er ist das Chaos‘, dachte Dr. Möglich am nächsten Morgen bei der Zeitungslektüre.

       Märchenstunde im Zwischenreich

      Eines Tages entdeckte Guido, dass seine Mutter schön war. In der Tat hatte Frau Dagmar blonde Haarlocken und helle Augen, über die sich beim Herniederschauen große Lider wölbten. Im Übrigen aber besaß sie eher strenge Gesichtszüge: ein ovales Antlitz mit leicht vorspringenden Wangenknochen und eine schmalrückige Nase. Dem Kinde erschien die Mutter nicht nur schön, sondern zugleich lieb wie eine Fee, die alle Wünsche erfüllte, und am meisten gefiel es Guido, wenn sie ihm Geschichten erzählte. Dann durfte er auf ihrem Schoß in der Kuschelecke unter dem Busen sitzen und hören, dass „einmal sieben Zwerge“ waren.

      „Diese Zwerge“, erklärte Frau Dagmar, „luden vor vielen Jahren einen spielenden Knaben dazu ein, in ihrem Reich bei einem dreitägigen Fest etwas vorzusingen. ‚Das ist gar nicht lange‘, dachte der Junge und hüpfte zusammen mit den Knirpsen in eine Karussellgondel. Jetzt begann sich das Karussell schnell und immer schneller zu drehen, während er immer kleiner und die Gondel immer größer wurde. Ehe er sich’s versah, verwandelte sich der Raum in eine Liliputstadt, in der es keine Nacht gab, sondern nur blinkendes Licht und hunderttausend Wichtelmänner. Sie freuten sich, als er ihnen alle Lieder vortrug, die er kannte. Nachdem er gesungen, eine Menge Eierkuchen und Pudding gegessen und dreimal geschlafen hatte, schenkten ihm die kleinen Leute einen Korbwagen voll Gold, bremsten das flinke Riesenrad und ließen ihn just an seinem Spielplatz aussteigen. Aufgeregt lief er ins Haus, wo ihm eine alte Frau begegnete und ihn fragte, wer er sei. Das wunderte ihn, bis sie beide ausrechneten, dass er nicht drei Tage, sondern dreißig Jahre im Geisterreich gewesen war.“

      Nach diesem Märchen wollte Guido gewöhnlich noch die Erzählung vom König hören. „Ja, der König“, sagte Frau Dagmar. „Er machte den ganzen Tag lang nichts anderes als Zeitungslesen, Papierbekritzeln und Kuchenessen. Da er nur sich selbst liebte, lebte er ganz allein in den vielen Zimmern des Palastes. Um die Mittagszeit trippelte er in den Empfangssaal hinüber, wo ihn seine Höflinge und Soldaten mit Fahnen, Trommeln und Trompeten begrüßten. ‚Allmächtig und gnädig bist du, o Herr!‘, riefen sie dem Gebieter entgegen, der als Hoheitszeichen eine große Fliegenklatsche trug. Misstrauisch schritt er die Versammlung ab, beschnupperte seine Gefolgsmänner und klatschte jeden platt und tot, der nicht richtig roch. Nun hielt er eine lange Schimpfrede und befahl, ihm Denkmäler zu bauen und in den Heiligen Kampf zu ziehen. – Während der König wieder Zeitung las, Papier bekritzelte und Kuchenkrümel leckte, reckten seine Getreuen die Nasenspitzen wie Rüssel über die Köpfe, beschnüffelten alle Leute und schossen mit Feuerspritzen auf jeden, der nicht richtig roch. Weil es so viele Andersriechende gab, herrschte jahrelang Krieg im Lande. Manchmal brachten die Krieger Gefangene in die Stadt. Darunter befand sich einmal eine schöne Maid, die am Geburtstag des Regenten ihr goldenes Haar opfern sollte, weshalb sie sehr weinte. Doch es gelang ihr, heimlich einen geflügelten Boten zum Prinzen Wendehals zu schicken, der plötzlich auf dem Schlosshof landete und die Feuerspritzen der Palastgarde auspustete. Im Thronsaal schimpfte der König fürchterlich über Verräter und Eindringlinge. Er schlug mit der Fliegenklatsche wütend um sich, aber Wendehals lachte und streckte ihm die Zunge heraus, an der die Majestät schließlich festklebte. Mit einem Male verschwand der ganze Spuk, und der Retter konnte das befreite Mädchen heiraten.“

      Die Mutter wusste noch viele fabelhafte Geschichten: zum Beispiel vom wandernden Taler auf dem Jahrmarkt oder von einer Grille, die mit der Nachtigall einen Pakt abschließen wollte, sich gegenseitig nicht aufzufressen. Doch am liebsten lauschte Guido auf die Märchen vom bösen König und den sausenden Heinzelmännchen. Vielleicht hörte er sie zu oft?

      Eines Nachts schien es ihm so, als ob sich seine Beine wie im Wasser der Badewanne vom Grund lösten und nach oben schwammen. Nanu? Ängstlich ruderte er mit den Armen und bemerkte, wie er unversehens und kopfständig gen Himmel fuhr. Natürlich wollte er schreien, aber die Rufe blieben ihm im Halse stecken. Niemand eilte ihm zu Hilfe, weder der achtäugige Schutzengel Daus noch die Vögel, Zwerge oder großen Leute. Vergeblich versuchte er, sich an den Wolken festzuhalten, die ihm kalte Duschen entgegenspritzten. Unterdessen wurden unter ihm die Kinder, Häuser, Bäume, Straßen und Wiesen klein und kleiner. Dann schwebte er irgendwo im Weltenraum und sah von der Erde nur noch ein paar Lichtpünktchen. Nach einem Weilchen begannen sich die Sterne zu drehen und wie Leuchtkugeln auf krummen Flugbahnen durchs dunkle Gewölbe zu bewegen, weshalb er nicht mehr unterscheiden konnte, wo oben und unten, hoch und tief, gestern und morgen war. Wie lange die Reise und Erkundung der vierten Dimension dauerte? Später glaubte er, sich an ein seufzendes Ausatmen zu erinnern, worauf er sich zu seiner Überraschung wieder der Erde näherte. Kaum hatte er begriffen, dass er durch kurzes Luftschnappen und fauchendes Hauchen die Höhe zu regulieren vermochte, blies er aus Leibeskräften, bis er endlich wie an einem Fallschirm in sein Bettchen flog.

      War das eine Not! Fortan fürchtete Guido, er könnte jederzeit aus der Welt hinausfallen, weshalb er abends die Daunendecke mit Stofftieren beschwerte und tagsüber sorgsam Umschau hielt, ob Gebäude und Bäume zum Anklammern in der Nähe seien. Beim Spielen im Garten bereitete das keine Mühe, denn überall ragten stämmige Hölzer und Zwerge empor, die teilweise lustige Namen hatten wie Amarelle, Griepenkerl, Jonathan, Boskop oder Mollebusch. Hinter Flieder und Sonnenblumen gab es verbotene „Kräuterbeete“, von denen ein geheimnisvoller Reiz ausging. Dort wuchsen Sadebaum, Aronstab, Seidelbast und Gesundheitspflanzen, aus deren Giften der Doktor wundersame Säfte und Pulver für seine Hausapotheke gewann. Bisher hatte Guido immer allein oder mit der Mutter gespielt. Jetzt entdeckte er in der Nachbarschaft Annette, die gern zum „Grasen“ hinüberkam. Dann lagen die beiden mucksmäuschenstill auf der Wiese und guckten zu, wie Käfer an Halmen hangelten, Admiralsschmetterlinge im Klee badeten und eine linksgewundene Hortensisschnecke ihre Fühler schwenkte wie ein Geweih. Später fingen die Kinder Eidechsen und grüne Heupferde, die sie auf ihrer Puppenbühne als Krokodile und Zirkusspringer auftreten ließen.

      Irgendwann verirrten sich die Spielgefährten in die „Kräuterbeete“. Und Annette erblickte eine Staude mit Früchten und meinte, sie seien lieblich anzuschauen und gut zu schmecken. So pflückte sie braunrote Schattenmorellen und aß und gab dem Guido auch zu essen davon. Da wurden ihre Augen verwirrt, und der blaue Reiter zockelte durch den Garten … Ach, wie erschrak Frau Dagmar darüber! Doch Theo erkannte, was die Stunde geschlagen hatte. Er bemerkte erweiterte Pupillen, Sehstörungen, Puls- und Atembeschleunigung, trockene Haut und diagnostizierte Atropinvergiftung infolge des Genusses von Tollkirschen. Sofort flößte er den Kindern Salzwasser ein, worauf sie erbrachen wie nach stürmischer Seefahrt und erschöpft einschliefen.

      Seitdem wussten die beiden „Sünder“, was gut und böse war. Tapfer nahm Guido die „Schuld“ auf sich, aber nicht das bekümmerte ihn vordringlich, sondern die unheimliche Wiederholung der Himmelfahrt. Dabei hatte er diesmal zeitweilig wie eine Eidechse schnappen müssen! Während des interessanten Krankenlagers in der Wohnstube entschloss er sich zögernd dazu, die Mutter um Aufklärung zu bitten, ob ein Junge auch ein Krokodil sein könne.

      „Nein, Prinzchen, das kannst du nur spielen oder träumen.“

      „Aber ob Krokodile manchmal träumen, dass sie Menschen sind?“

      „Bestimmt nicht, denn noch nie hat man Krokodile in die Schule gehen oder Zeitung lesen sehen.“

      Guido überlegte einen Augenblick und fragte weiter: „Woher weiß man eigentlich, was wirklich ist? Und wo bin ich, wenn ich träume?“

      „Natürlich in deinem Bettchen.“

      „Kann das nicht wegfliegen, wenn ich etwas

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