Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher
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Alban Holdheimer fühlte sich durch die gewohnte Anrede erleichtert, obwohl sie ihm die Sondermission vermutlich erschwerte. Schon seit Langem befand er sich in ärztlicher Behandlung wegen seiner Asthma-Anfälle, aber der Doktor (mit Routineuntersuchungen beschäftigt) verbreitete wieder einmal Optimismus: Gewiss kenne man heutzutage ungefähr zehntausend verschiedene Krankheiten oder Syndrome, doch infolge des wissenschaftlichen Fortschritts stürben die Leiden gleichsam schneller als die Leidenden. Selam für Methusalem! Ob man es denn vor hundert Jahren für möglich gehalten hätte, dass Epidemien wie Pocken, Cholera und Pest aus Europa verschwinden und bisher tödliche Mangelerscheinungen durch künstliche Insulin- oder Hormongaben behoben werden könnten? Na also! Ein bisschen Asthma bedeute an der medizinischen Front keinerlei Gefahr, da eine simple Adrenalinspritze zur Abwehr genüge.
„Dennoch pfiff ich gestern beinahe aus dem letzten Loch“, bemerkte der Nachbar.
Theo Möglich nahm die Goldrahmenbrille ab, wodurch seine hohe Stirn noch höher wirkte, und erklärte: „Dann müssen wir ein neues Allergen annehmen. Vielleicht auch ein Konfliktchen? Hoffentlich klappt es mit dem werten Liebesleben?“ „Auwei!“, fiepte Herr Holdheimer. Er legte den Kopf auf die rechte Schulter und sah momentan in seinem schwarzen Anzug wie ein melancholischer Geiger aus. Ein Weilchen überlegte er, ob er die Frage beantworten oder ausweichend über Guidos „unzüchtige Handlungen“ reden sollte. Am Ende rückte er näher an den Ordinationstisch heran und begann ein Gespräch unter Männern.
In der Tat gebe es gewisse Schwierigkeiten. Zwar wolle er sich nicht beklagen oder gar einen Zusammenhang zwischen Kalamität und Atemnot konstruieren, aber bekümmern tät ihn schon etwas. Mit seinem Weib wär’s im Ganzen recht nett, sie erfülle ihre Pflichten im Haus und Geschäft zur Zufriedenheit, wenngleich im Bett, sozusagen, nur anstandshalber. Freilich habe sie das Nettchen geboren, worüber er narrisch glücklich sei, obwohl sie bei der Empfängnis dagelegen hätt wie ein Kriegerdenkmal. Und so treibe sie’s fort: Kein Funken Gefühl bei der Kopulation, sondern stets ein Duldermäskchen wie die Heilige Jungfrau persönlich. Manchmal glaube er, das müsste ein Scheidungsgrund sein.
„Oha“, sagte Dr. Möglich, „für Sie oder Ihre Gattin? Wie benehmen Sie sich denn beim erotischen Hoppelpoppel? Immer Schnellbüffet, ja? Dachte ich’s mir doch, lieber Herr Holdheimer. Haben Sie schon mal überlegt, wie eine unzerkaut geschluckte Praline schmecken würde? Und Sie muten Ihrer armen Frau ständig zu, sie solle gewissermaßen an injizierter Nascherei Geschmack finden. Offenbar muss ich einem Delikatesswarenhändler eine Genießerlektion erteilen.“
„Ist’s wahr?!“, rief der Nachbar. Angesichts der eigenen beschämenden Unerfahrenheit erschien ihm seine „Sondermission“ samt beabsichtigtem Protest gegen den libidinösen Forschungseifer von Herrn Doktors Sprössling plötzlich recht läppisch.
Unterdessen dozierte der Arzt über die Wissenschaft vom bekömmlichen Liebesakt. Schon die alten Inder hätten, aufs Wort, vierundsechzig vergnügliche Positionen, Variationen und Spiele gekannt und dabei ein feines Empfinden für das zulängliche Zeitmaß bewiesen. Besonders gefalle ihm ein Vergleich, demzufolge wollüstige Bewegung ebenso langsam beginnen und sich allmählich beschleunigen solle wie Töpferscheibe, Kreisel oder Schaukel. Zur Ehe-Gymnastik seien Fantasie und Kunst vonnöten wie zum harmonischen Leben überhaupt.
„Harmonie? Gibt’s die denn noch?“, fragte Alban Holdheimer und entschloss sich dazu, das Zwiegespräch auszuweiten. „Wissen Sie, in der Liebe wird mir Ihr Rezept vielleicht helfen, schönen Dank, doch wie begegne ich der politischen Not, die mir Atemnot schafft? Ich fürchte, es geht nicht gut aus in Deutschland.“
„Man muss den Glauben an die Kraft der Humanität bewahren“, erklärte Dr. Möglich. „In der medizinischen Praxis bedienen wir uns des Placebo-Effekts, wobei sich zeigt, dass vierzig Prozent aller Patienten auf eine harmlose Zuckerpille genauso reagieren wie auf eine echte Droge. Auf Vertrauen kommt es an.“
Der Nachbar schüttelte den Kopf. „Ich wage nicht mehr, viel zu hoffen. Überall Drohung, Hass und Gewalttätigkeit. Verstehen Sie das? Als ob wir Juden nicht immer gute Deutsche gewesen wären! Und nun wollen die Schowis berühmte Gelehrte und Künstler, die zum deutschen Ansehen beitrugen, ansehen wie Parasiten.“
„Im Paradies blieb es bisher ruhig, lieber Herr Holdheimer.“
„Ja, gewiss. Aber was sind das für Sachen, die uns die Zeitungen täglich offerieren: Fememorde, geheime Aufrüstung, Gerangel an der Regierungsbank und das Gerede von der miserablen Rasse. Dazu ökonomischer Schlamassel, der einen Geschäftsmann zwackt wie Rheumatismus. Darf’s das geben in einem zivilisierten Establishment? Mir ist das unheimlich, lieber Doktor. Und wenn dieser Ahi an die Macht gelangt, denk ich, dann gnade uns Gott.“
Theo Möglich blätterte im Arzneibuch, als der Besucher leise hinzufügte: „Warum leben wir nur in einer derart schlimmen Zeit?“
„Um zu überleben, mein Freund.“
ZWEITES LUSTRUM
Sein Kampf in Bildern oder: Zeitansage, 6. Jahr
31. Januar (1. Bild): Nachdem der Boss den Bankiers und Finanziers baldige internationale Kreditwürdigkeit und Allerhöchsten Schutz versprochen hatte, ließen sie den Großkopfetenhut im Kreise herumgehen. Grinsend überreichten sie dem Retter der Nation drei Millionen Reichsmark als Morgengabe. Während Ahi auf die Kanzel hinaustrat, wo er aus dem Terzerol drei Schüsse abfeuerte, stellten die Konzernherren das Fließband zur Gangster-Show an. Vom Brandenburger Tor her beförderte die Rollbahn jubelnde Schowi-Trupps mit Fackeln, Fahnen und Fanfaren durch die Nacht. Transparente verkündeten den Kampf gegen Blähungen und unreines Blut, worauf viel Volk, vom Spektakel fasziniert, auf die Drehbühne sprang und zu den Rauschgiftbuden hindrängte. Berichterstatter Os prophezeite, der Spuk werde entweder zwölf Tage oder zwölf Jahre dauern. Aus dem Lautsprecher dröhnte hingegen eine rau-gutturale Stimme: „Ich werde ein Fundament für Jahrtausende bauen. Wenn von dieser großen Stadt und Metropole kein Stein mehr auf dem anderen liegt, soll die Welt noch immer unserer heiligen Bewegung gedenken.“
27. Februar (2. Bild): Am Nachthimmel über dem Reichstagsgebäude zu Berlin breitete sich Feuerschein aus. Gespenstisch spiegelte sich die brandumrandete Silhouette des Kuppelbaus in der Spree. Menschen rannten und gafften. Mit Verspätung trafen zehn Löschzüge ein, aus denen Wasserschläuche wie Anakonda-Schlangen hervorquollen und die Flammenflut im Parlament erstickten. Unterdessen tanzte Ahi in verqualmten Wandelgängen und schrie: „Jetzt hab ich sie! Es gibt kein Erbarmen. Lasst Köpfe rollen, Kerls, und killt! Schließlich senkte sich Dunkelheit über die Szenerie, doch in den Straßen kehrte nicht Stille ein wie sonst. Gestalten und abgeblendete Fahrzeuge huschten umher. ‚Du musst dich in Sicherheit bringen‘, dachte Os. Aber er wartete ab bis zum Hahnenruf.
21. März (3. Bild): Unweit eines Kurorts für Herzkrankheiten wurde das Konzentrationslager Rotenfeld eingeweiht. Wie die Staatszeitung meldete, äußerten sich Geistliche sehr anerkennend über die vorbildliche Unterbringung der Schutzhäftlinge in sauberen, luftigen Zimmern mit fließendem Wasser, über gesunde Kost und korrekte Behandlung. Vom Appellplatz her näherte sich im Laufschritt eine nummerierte Kreatur mit gelbem Kürbiskopf, blauem Auge und Zahnlücken. Mühsam erkannte der Besucher den ehemaligen Berichterstatter Os, dessen Atem pfiff und leise Worte ausstieß: „Sagen Sie den Freunden, es ist bald vorüber, bald aus. Ich bin am Ende, und das ist gut. Ich wollte nur Güte und Frieden.“ – Wie die Wandzeitung meldete, gelten die sumateraischen Batakstämme als die letzten Menschenfresser, die Gefangene auf Bambusstangen rösten und zum Reis verspeisen. Gemäß moderner wissenschaftlicher Erkenntnis bietet jeder frische