Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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Johanniterberg eigentümlich stummelschwänzige Albino-Mäuse ins Binnenmeer sprangen und mondsüchtig Mozart pfiffen. Es roch nach Borke und Blaubeeren. Dazwischen schwebten, wie auf Präsent-Aquarellen vom alten Freund Rohlfs, gelbe, rufende Blumen.

      Hilla rief. Und sie schrie, als sie beim Pullern zu bluten schien. Aber der Vater beruhigte sie über das vom Azofarbstoff erzeugte „Feuerwasser“. Bevor er wieder im Lehnstuhl Platz nahm und sich verantwortungsbewusstes Wachbleiben befahl, prüfte er ihren Puls und die Temperatur, schüttelte den Kopf und gab bange acht auf Atemzüge, halblaute Wortfragmente und Bewegungen, von denen er binnen Kurzem zwanzig zählte. Oh, wie sehr bat er insgeheim um die Mithilfe des geliebten Mädchens! Nur wenn es ihn mit natürlichen Widerstandskräften unterstützte, konnten die vom Prontosil geschwächten Bakterien endgültig ausgeboxt werden.

      Am nächsten Morgen zog sich das Fieber um vier Teilstriche aus der Quecksilbersäule zurück.

      In den folgenden Tagen benahm sich die Patientin, wie es sich für eine Romanheldin geziemt. Sobald Doktor Domagk frohlockte, jagte sie ihm mit Hitzerekorden nahe der Vierzig-Grad-Grenze argen Schrecken ein; sobald er sich bekümmert zeigte, bescherte sie ihm überraschend ein Temperaturtief. Übrigens ließ sie sich nur noch in den Po spritzen und zum Trinken der „ollen Tomatenlimonade“ bewegen, wenn man ihr dafür heute allerlei Belohnungen „für morgen“ versprach.

      Doch am Ende gab es eine schöne Weihnachtsbescherung. Hilla blieb vom Hackebeilchen verschont und wurde gesund, und die Mutter sagte: „Was Vater tut, ist immer recht.“

       Zeitansage, 7. und 8. Jahr

      30. Juni: Obwohl Ahi durch Besiedlung von Konzentrationslagern, Beschleunigung des Emigrationstourismus und friedliche Kriegswirtschaft alsbald Hunderttausende Arbeitsplätze für Erwerbslose schuf, nannte Spezi Rüpel derartige Errungenschaften einen Furz. Kraftmeierisch forderte er eine blutige, zweite „Revolution“ und die Übertragung aller militärischen Macht an Ganoven-Sturmabteilungen. – Blitzschnell entschloss sich Ahi dazu, von Bonn nach Bayern zu fliegen, um die unehrerbietigen Getreuen zur Räson zu bringen. Wie die Staatszeitung meldete, fuhr er im Morgengrauen fast ohne Begleitung zum Quartier der alten Mitkämpfer, bezwang die Wachposten mit blitzendem Blick und betrat, eine Hundepeitsche schwingend, das Schlafgemach des Rivalen. Von zwei Scharfschützen flankiert, trieb er den Mann im Nachthemd heldenhaft aus dem Bette und verkündete: „Du bist verhaftet!“ In den angrenzenden Stuben bot sich dem charaktervollen, makellosen, sauberen Boss ein empörendes Bild dar; er fand die Rüpel-Garde zumeist in perversen Positionen. „Ihr Arschficker!“, brüllte er in kernig-korrektem Bühnendeutsch und riss von umherliegenden Uniformen die Rangabzeichen herunter. „Pfui Teufel! Ich arretiere, degradiere und liquidiere euch!“ Wenige Stunden später verordnete Ahi den hochverräterischen Freunden und Opfern der deutschen Bartholomäusnacht den Gnadentod durch Erschießen.

      20. Dezember: Einst war das Luftschiff „Graf Zeppelin“ bei einer Besichtigungsreise in zwanzig Tagen um die Welt gesegelt. Nun stellte es einen Streckenrekord auf, der vierundzwanzig Erdumkreisungen in einem Betriebslustrum entsprach. Während der Flug von Friedrichshafen nach Rio de Janeiro für jeden der zwanzig Gondelpassagiere vor fünf Jahren noch 8 400 RM kostete, dürfte die Preissenkung auf 1 500 RM für daheim Unerwünschte erwünscht sein.

      Im nächsten Spätsommer, 15. September: Gemäß rassenhygienischer Vorschrift sind Eheschließungen zwischen Juden und arischen Deutschen künftig verboten, bereits geschlossene Mischehen null und nichtig und außereheliche Geschlechtsbeziehungen im genannten Personenkreis verbrecherisch. Ab sofort haben Hebräer und Farbige als minderwertig, schamlos, sexuell entartet und schwachsinnig zu gelten. Die Höchststrafe trifft jedermann, der den Retter Ahi, den Heiland und die ersten Menschen nicht für nordisch und reinrassig hält.

       Der klagende Delfin

      Zischend, fauchend und Dampfballons verpuffend setzte sich die Lokomotive in Bewegung. Frau Dagmar, über deren Augen sich beim Herniederneigen große Lider wölbten, beobachtete ihren Sohn, der endlich wieder lachte. Er hockte neben ihr auf dem Fensterplatz des Eisenbahnwagens, drückte die Nase an die Scheibe und fand es lustig, wie draußen die Leute, Häuser, Bäume und Telegrafenstangen zu tanzen begannen. Immer wieder jauchzte er den Dingen entgegen, die am Zug vorbeirannten, bis eine Haltestelle in Sicht kam. Nun fuhr die linke Seite des Abteils (neben Güterwaggons) überraschend weiter, während die rechte Seite still stand.

      Obwohl die Mutter amüsiert lächelte und dem Jungen die Suche eines festen Bezugspunktes auf der Böschung empfahl, vermochte sie die Sorgen der vergangenen Woche nicht ganz zu verdrängen. Holdheimers waren plötzlich verschwunden. Emigriert, wie Theo verstohlen sagte. Natürlich hatte Guido ständig nach Annette gefragt, aber was sollte sie ihm antworten? Fabelei von einer Ferienreise ohne Wiederkehr? Erzählung von „andersartigen“ Menschen, die angeblich nicht „hierher“ gehörten? Berufung auf Himmels- und Landesväter, die für jedermann das Beste aus dem Schicksalssack schütteten? Ach, sie hatte es mit allen drei Erklärungen versucht, doch durch Guidos unerbittliche Warum-Geschosse waren sämtliche Ausreden zerplatzt. Nein, vom „ollen Petzer“ oder von „hundsgemeinen“ Knecht-Ruprecht-Vätern wolle er nichts wissen; seine Freundin sei nicht „anders“, sondern die beste und liebste und gehöre ins Nachbarhaus. Als er gleichsam in den Hungerstreik trat und sich ganz unkindlich aus der Spielecke zurückzog, verging den Eltern rasch die Lust, über „frühen Liebeskummer“ zu spaßen.

      Schließlich kam Frau Dagmar auf den Gedanken, den Jungen zu „zerstreuen“ und erstmals zum Einkaufsbummel in die Kreisstadt mitzunehmen. Schon beim Gang durch die Altmarktstraße eröffnete er jeden zweiten Satz mit dem Vorspruch: „Kaufst du mir –?“ Es gab in den Schaufenstern so ungeheuer viel zu sehen und zu begehren, etwa weiße Mäuse im Kletterrad, ein Aquarium mit Purpurkopfbarben, Schleierschwänzen und flügelflossigen Guranis, ferner Boxhandschuhe, Fernrohr und Armbanduhr. Bevor er sich ein Paddelboot wünschen konnte, gelang es der Mutter, seine Aufmerksamkeit auf einen Rasselkasten zu lenken, der jeweils fünf Pfennige verschluckte und dafür portionsweise Bonbons und Fruchtwaffeln herausrückte. Vergnügt stopfte Guido die Taschen voll und gönnte seiner Begleiterin vorübergehend den Ausblick auf Kleider, Hüte und Strickmoden. Später zeigte sie sich erkenntlich, indem sie außer Utensilien für die bevorstehende Einschulung noch Buntstifte, Malbuch, Trommel und ein Miniaturmodell des neuesten Raketenautos erstand.

      Während der Rast im Stadtpark entdeckte der Knabe inmitten eines Wasserbassins eine Säule, auf deren Spitze sich ein zeppelinförmiges Marmorgebilde befand. „Ein Krokodil?“, mutmaßte er.

      „Nein, ein Delfin. Weißt du, das sind Tiere, die im Meer schneller schwimmen als Dampfer und Fische und den Matrosen manchmal zuzwinkern. Ein Steindelfin kann freilich nicht zwinkern, aber auf einer Inschrift erklärt der Denkmalbauer, dass es ein ‚klagender Delfin‘ ist.“

      „Warum klagt er?“

      „Weil er traurig ist, mein Junge.“

      „Und warum ist er traurig?“

      „Ich glaube, weil er baden und planschen und nicht immerzu in der Luft hängen möchte.“

      Guido überlegte ein Weilchen und sagte: „Nein, weil er so alleine ist! Er hopst bloß aus’m Schwimmbecken, damit er seine Freundin schneller sieht, wenn sie kommt.“

      „Vielleicht hast du recht“, meinte Frau Dagmar. „Aber Delfine können im Wasser besser gucken als in der Luft, und sie finden im Meer auch viel flinker andere Delfine, die lieb sind und sogar untergehenden Menschen helfen.“

      Leider

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