Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher
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Beim Lesen- und Schreibenlernen fand er es reizvoll, das Alphabet zu verbildlichen und zu beleben. Beispielsweise bemerkte er im A die langen, hängenden Arme eines Affen, im B die ergänzungsbedürftigen Blütenblätter des Wiesenschaumkrauts und im O eine Orange; aus M flog eine Möwe hervor, und S wand sich wie eine Schlange. Während des Unterrichts unterhielt er sich minutenlang mit den Tieren und Dingen, die hinter den Buchstaben hervorlugten und ihm bedeuteten, dass sie Verkehrszeichen der Sprache seien. Besonders gut verständigte er sich mit der katzengesichtigen Eule, die reglos wie ein Yogi im U-Bogen hockte, sich über die Dummheit der Leute im Uhu-Märchen mokierte und dagegen die kauzige Begabung zur Durchdringung der Dunkelheit pries. Wortsymbole paradierten. Mühelos gelang es ihm, Texte in Bilder, Sinnbilder in Sätze zu verwandeln und nach flüchtiger Ansicht auswendig herzusagen.
Lehrer Krause wunderte sich über die rasche Auffassungsgabe des Knaben, der offenbar gar nicht aufpasste. Immer wieder bemühte sich der alte Schulmann, durch kurzweilige Lernspiele nützliches Wissen zu vermitteln, doch Guido zeigte sich nur ausnahmsweise interessiert. Einmal beäugte er am Kartenständer erstaunt eine Reproduktion altägyptischer Bilderschrift. Ein andermal verblüffte ihn die Demonstration der Leichtgläubigkeit, denn nach episodischer Betrachtung eines Landschaftsfotos bejahten fast alle Kinder die Suggestivfrage, ob sie im Hintergrund eine (gar nicht vorhandene) gelbe Postkutsche gesehen hätten. Schließlich erregte ihn die pädagogische Umfrage, wen sich jeder zum liebsten Spielkameraden wünsche, weil bei der anonymen Auszählung eine rätselhafte Stimme für ihn dabei war. In der nächsten Zeichenstunde löste er die Aufgabe, das sympathischste Tier darzustellen, indem er zwei springende Delfine mit menschenähnlichen Köpfen malte.
Als Dr. Möglich von der schulischen Verträumtheit des Sprösslings hörte, schimpfte er über die in seinem Hause „leider üblich gewordene törichte Verzärtelung“. Obwohl Frau Dagmar spöttisch fragte, seit wann er sich für die Ideale der behämmerten, ruppigen Schowi-Jugend begeisterte, hielt Theo am Erziehungsvorsatz fest, aus Guido einen Guide zu machen.
Der Knabe zeigte sich anfangs durchaus beglückt davon. Wie sehr hatte er einstmals Annette um deren stets anteilnehmenden Ätti beneidet, und jetzt sollte er selbst endlich einen Papa bekommen, der sich mit ihm beschäftigte! Gern folgte er der Aufforderung zum lustigen Wettlauf und Seilhüpfen; vergnügt tummelte er sich beim Ballspiel auf dem Rasen, bis er sich unversehens als Torwart zwischen zwei Pappelstäbe gestellt sah. Nun flogen wuchtige Geschosse wie Donnerkeile um ihn her. Mehrmals traf ihn die harte Lederkugel frontal und bereitete ihm brennende Schmerzen, die ihn aufschreien ließen. Aber der Vater rief ungerührt: „Heul nicht! Fang auf oder köpfe! Dann kann dir gar nichts passieren.“
Trotz mitleidiger Einwände der Mutter verlangte der Doktor in der Folgezeit immer neue Mutproben von seinem Sohn, dem er die „Gefahrlosigkeit jeder Situation“ erläuterte, vorausgesetzt, er verhalte sich vernünftig. Nach sportwissenschaftlicher Belehrung musste Klein Guido auf Bäume klettern, „federnd“ von Mauern hinunterspringen und „absolut entspannt“ über eine zwei Meter hohe Latte balancieren, wobei er das philosophische Schreck- und Schwindelgefühl über seine abgründigen Möglichkeiten erst hinterher spüren durfte. Ein andermal half ihm kein Weh und Ach gegen das Gebot, im fröhlichen gymnastischen Schwimmbewegungs-Einszweidrei einen Fluss zu durchqueren, was er am Ende im Vertrauen auf imaginäre rettende Delfine tatsächlich wagte. Seitdem blickte er seinen Erzeuger teils trüb-, teils feindselig an.
Abends sank er sofort in tiefen Erschöpfungsschlummer. Während Frau Dagmar den „armen Jungen“ bedauerte, dozierte Theo über ausdauernde Gesundheit durch Turnen. „Nach unseren medizinischen Erkenntnissen“, sagte er, „begünstigen Training und langer Schlaf die Langlebigkeit. Außerdem trägt erquickliche Nachtruhe zur Intelligenzverstärkung und körperlichen Kräftigung bei, da sich das Wachstumshormon Somatotropin vorwiegend nachts auswirkt. Wünschst du noch mehr für Guido? Wachsend wird er sich ändern, nachdenklich wird er wandeln.“
Zeitansage, 9. Jahr
12. Juli: Während der Himmel das Land der rechtschaffenden Schowis segnete und dort eine Rekordernte reifen ließ, bescherte er dem Land der protzigen Yankees arge Hitzerekorde um sechzig Grad, katastrophale Dürre, Heuschreckenplage und (wie in einem Super-Western-Film) stündlich hundert Tote.
18. Juli: Andächtig lauschten die Aufrechten Deutschen den Nachrichten über die Erfolge der Erneuerungsbewegung in Marokko und Andalusien. Als der oberste Falange-General seine Entschlossenheit bekundete, zum Zwecke der heiligen Machtergreifung gegebenenfalls „halb Spanien zu erschießen“, telegrafierte ihm Ahi entzückt Glückwünsche, verbunden mit der Ankündigung bombiger Mithilfe und der Entsendung manöverlustiger Flugzeuggeschwader.
14. August: Anlässlich der Olympischen Spiele herrschten in Berlin zwei Wochen lang die Hellen Nächte. Hunderttausende Glühbirnen, griechische Feuer, Lampions, Scheinwerfer und Strahlendome erfüllten die goethesche Forderung: mehr Licht! Tagsüber besichtigten anderthalb Millionen Gäste und Reporter den üppigen Festschmuck (50 000 Quadratmeter Fahnentuch, 70 Kilometer Eichenlaubgirlanden), diverse Weiheräume und die Auslagen humanistischer Literatur in den Schaufenstern zur Welt. Beunruhigung durch die Broschüre „Lernen Sie das schöne Deutschland kennen“ mit Empfehlung eines Besuchs in „Sonderbehandlungsräumen“ der Konzentrationslager. Dennoch stimmten die Globetrotter begeistert in den Halleluja-Chor aus Händels „Messias“ ein, dieweil der Retter Ahi das Stadion betrat. Freundlich begrüßte er die Repräsentanten des Auslandes, huldvoll ehrte er die nationalen Triumphatoren, doch unmutig verließ er jedes Mal die Ehrentribüne bei Medaillengewinnen der „Untermenschen aus dem Dschungel“, dem Siegesquartett des Negers Jesse und anderen skandalösen Vorfällen. „Deutschland von Norwegen 2:0 geschlagen!“ Welch hochverräterische Schlamperei! Es war Pflicht der arischen Deutschen, Überlegenheit zu demonstrieren.
19. August: Vier Wochen nach dem Sieg der Falange in Granada kamen die Häscher in das Haus der Geborgenheit und verhafteten Frederico. Oh, wäre er im bedrohten Madrid geblieben oder rechtzeitig über den Ozean zu Freunden geflohen! Aber er hatte sich nach andalusischen Hirten, Gärten und der Sprache der Blumen gesehnt, nach lyrischem Kopfweh und den pianistischen Mysterien Debussys. – Nun saß er im Gouverneurspalast gefangen und sagte leichthin zu Angeline, die ihm Kaffee und blonden Tabak brachte: „Dichter tötet man nicht.“ Unmöglich konnten Poeme der Wahrheit strafwürdig sein, denn Wahrheit galt seit je als hohes Ziel der Erkenntnis und sittlichen Bemühung. Dennoch: Überall breitete sich Angst aus wie Nebel im Tal und erreichte auch ihn. Erinnerung an seine Verse gegen miese Bourgeoisie, Gendarmen mit Schädeln aus Blei und die Diebe von Brot und Öl des Volkes; Bekenntnisse zur Freiheit in der Liebe, Liebe zur Freiheit und zu den Unfreien, die um ihr Menschenrecht stritten. – Die Schwarze Legion vergaß nichts. Kurz nach Mitternacht fuhren sie ihn nach Viznar und von dort auf dem Mönchsweg zum dunklen Gewölbe. Im Morgengrauen eskortierten sie ihn gefesselt zum Quell der Tränen. Erschrocken gewahrte er die letzte Wahrheit, Flügel aus Moos, Schwefelblüte über dem Mund und den blauen Reiter. Doch kein Geklage! Dem Tod muss man auf die Lippen sehen. Stille. Schüsse. Unter den Zweigen des Ölbaums verblutete Spaniens großer Dichter.
23. November: Durch anklagende Dichterworte war es überraschend gelungen, den Berichterstatter Os aus den Händen der Folterknechte zu befreien. Im Berliner Staatskrankenhaus empfing er die Nachricht von seiner Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis. „Dank für die Ehrung“, sagte er. ‚Leider bin ich bald am Ende‘, dachte