Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher
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Читать онлайн книгу Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher страница 18
„Nur herein, du Halunke!“, rief Pablo vergnügt. „Bist du eben erst aus dem Bett gefallen, oder hast du die Nacht in der Weltausstellung der horizontalen Halbwelt verbracht? Was gibt’s Neues im Bordellanzeiger?“
Marcel stand vor der rechten Bildseite und begaffte die siebzig Zentimeter hohe Fußsohle einer fliehenden Frau. Darüber eine Art Kreuzigung: gereckte Arme und ein gekipptes Kinn, so lang wie ein Bart. „Beängstigend – diese Frühschicht“, sagte er. „Bei der Hochzeit des Herzogs von Windsor, falls es Sie interessiert, trug die fürstliche Kokette modisches Wallis-Bleu. Nun reisen sie an die blaue Adria.“
Der Maler lachte wiehernd. „Nachher könntest du mich zum Pennen in die ‚Bohème‘ hinüberfahren.“ Er hüpfte vor der Leinwand auf und ab und steckte auf eine Stangenspitze einen roten Papierschnipsel, den er nacheinander unter jedes gemalte Auge hielt. „Wie schaut’s aus in den baskischen Provinzen?“ „Auf dem Boulevard des Heiligen Michel“, bemerkte Marcel, „würden Sie jetzt prima Antiquitäten und die jugendlichsten Modelle finden. Aufreizende Mädchen aus dem Orient, auch Negerinnen und Japanerinnen. Auf dem Trocadero-Platz hingegen stellen die Dänen viel Käse aus, die Schweizer ihre Uhren und die Deutschen Kinderspielzeug und gemeißelte Muskelmassen.“
Pablo hob das rote Signal unter das Murmelauge des Pferdes und fragte: „Wie gefällt dir das?“
„Ehe ich es vergesse, Monsieur: Die Gazetten melden, dass die Falange den Belagerungsring um Bilbao enger schließt.“
„Hol sie der Henker! Und das erzählst du mir erst jetzt? Menschenskind, es eilt! Wir müssen Guernica im spanischen Pavillon aufbauen.“
„Wenn Ihr Gemälde ‚Guernica‘ heißen soll, will ich Hmhm heißen. Ich sehe weder eine Stadt noch Flugzeuge und Bomben, sondern nur weibliche Vogelscheuchen.“
„Nanu? Hast du noch nicht beobachtet, wie relativ das Aussehen der Menschen ist? Einem Kind erscheinst du vielleicht als Opa und Pfiffikus, und einer Frau als schwerer Junge und Luftikus. Ebenso entdecke ich an meinen Figuren oftmals Apartes, eine verlogene Schönheit immerhin, die ich dann deformiere, um Ideen und den wahren Entwurf eines Daseins zu gewinnen. Meine Bilder sind eine Summe von Zerstörungen.“
„Aber stellen Sie sich mal vor, Monsieur, Ihre Frauen und Freunde kämen mit solchen Bilderfratzen an Ihre Haustür gerannt.“
Pablo kicherte, wobei er aus rundem Eulengesicht den Blick seiner morionschwarzen Pupillen merkwürdig starr auf Marcels hakennasigen Normannenkopf richtete. „Ja, es wäre zum Davonlaufen. Doch nun pass mal auf: Manchmal porträtiere ich die Leute noch durchaus so, wie sie sich gerne sehen, nämlich ähnlich und ein bisschen angehübscht. Ob man dazu allerdings Kunst braucht? Ich glaube: nein, denn ein Foto bietet die gewünschte, betrügerische Naturtreue mindestens ebenso gut. Deshalb male ich von Personen meistens nicht mehr deren Vorstellungen von sich selbst, keine Kopien, sondern mein Seherlebnis, mein fantastisches Wissen um ihre inneren Wirklichkeiten.“
„Trotzdem begreife ich nicht, warum Sie Ihre Gestalten derart zerhacken müssen. Ich erkenne nur Realitätsreste: hier einen halben Arm, dort ein Stück Rumpf oder ein schädeldachloses Haupt. Es sieht ja beinahe aus wie –“ „Auf einem Schlachtfeld, nicht wahr? Da hast du es: Ich male nicht den Krieg, sondern seine Opfer, nicht die Explosion, sondern Visionen. Hörst du nicht, wie die stumme Schöpfung auf meinem Bilde vor Schmerzen schreit? Was den Körpern hier angetan wird, ist so unmenschlich, dass es sicher menschliche Aktivitäten aufzurufen vermag. Siehst du noch immer nicht Guernica?“
Der Chauffeur trat in den Raum zurück und beugte sich vor, als wollte er einen Anlauf nehmen. Gewiss imponierte ihm das Gemälde: dreieinhalb Meter hoch und nahezu acht Meter breit. Mehrmals sprang er die erstaunliche Komposition mit den Augen an, um tiefer in sie einzudringen. Drei weinende Frauen, ein gefällter Krieger, ein brüllender Gaul, eine geisterhafte Lichtbringerin in der Mitte … Aber warum hatte sich der Kämpe mit dem Schwert gewehrt? Warum wurde der Klepper von einer Lanze durchbohrt, während der Bulle unversehrt blieb? Herrschte hier absurde Stierkampfzeit?
Schließlich sagte Marcel: „Offenbar kann man das nur richtig verstehen, wenn man die Bedeutung der Figuren kennt. Deshalb möchte ich fragen –“
„Pst! Machte Pablo und hielt den roten Schnipsel unter das rechte Auge des gehörnten Hauptes. „Nirgends passt der Tropfen hin. Siehst du, meine Gestalten haben alles Wasser ausgeweint. Das Malen war halt stärker als ich und nahm Empfindungen gefangen. Vielleicht gleicht das Pferd dem leidenden Volk und der Stier einer brutalen oder widerstrebenden Macht. Nur widerstrebend deute ich, weil ich an die Freiheit der Kunst denke und an das Paradoxon, dass ich dem Gewalttäter möglicherweise an jedem Freitag diese heimliche Träne ankleben werde.“
Zeitansage, 10. Jahr (Fortsetzung)
19. Juli: Die weißen Schäfer hatten sich vorübergehend aus dem Land Arkadien am Rande des Münchener Hofgartens zurückgezogen. Stattdessen waren verurteilte Bilder und Bildwerke an Schandsäulen aufgehängt worden. Zur Eröffnung der Ausstellung „Entartete Kunst“ erschien der Schowi-Boss in Begleitung seiner Gala-Ganoven. Als der verkrachte „akademische“ Maler und Kehlkopfartist die improvisierte Rednertribüne betrat, gewahrte er voller Rührung eine einzigartige Huldigung: Infolge der geschickten, ästhetischen Anordnung sämtlicher Glatzköpfe des Publikums leuchtete ihm aus dem Raum sein Name Ahi entgegen. Grüßend schlenkerte er die Hand wie eine Fliegenklatsche, bevor er mit rau-gutturaler Knödelstimme erklärte:
„Elendes Gesocks erfrechte sich, uns jahrzehntelang Kulturkotze zuzumuten. Darum habe ich die schizophrenen Ausgeburten fünftrangiger Kleckser, die sich nur der Gunst jüdischer Schleimscheißer erfreuten, an den Pranger stellen lassen.“ (Lärmend beklatschten die Getreuen jedes Gossenwort.) „Wir Aufrechten verdammen alles, was sich im Gefolge des Blauen Reiters auszubreiten wagte: Kubistischen Blödsinn im Kubik, expressionistische Seelenjauche, futuristisches Getto-Chaos und anderes Krickelkrakel.“ (Prasselnder Beifall.) „Angewidert wenden wir uns ab von Bilderfratzen und den gepinselten Überresten menschlicher Gesichter, Arme und Beine. Empört betrachten wir die deformierten Darstellungen deutscher Mütter in Gestalt geiler Dirnen, die schweinischen Klosettwandschmierereien und Besudelungen heldischen Soldatentums. – Dagegen preisen wir unsere gesunde Muskel-Malerei, die Veranschaulichung heroischer Nordmänner und des gewaltigen Prankenschlags.“ (Jubelnder Beifall.) „Verewigt seien Blutzeugen und Bauernfrühstück, Kameradschaft und Krieg, wozu Wagnerfanfaren erklingen und das Verlangen nach würzigem Münchener Bier erwecken sollen. Ich erwarte, dass Musik künftig nach ihrem Erfrischungswert und die bildende Kunst nach Gesichtspunkten der Atemtechnik beurteilt wird. Von unserem neuen Lebensgefühl aus missbilligen wir die verkrampfte Haltung einer Venus von Milo, die Porträtierung hebräischer Untermenschen durch Rembrandt und die schlappen Modelle El Grecos, von den Sauereien neuerer Kulturbolschewisten gar nicht zu reden. Attacke!“ – „Zickezacke, Heil!“
Mit finsteren, verächtlichen Blicken zog die Schowi-Garde an den Gehängten vorüber. Christus tröstete Barlachs Apostel, ließ bei Corinth den Ecce-Homo-Ruf ertönen und schrie auf in Noldes Kreuzigungstriptychon. Während Lehmbrucks Knieende wie eine Gerte schwankte, schossen Klees goldener Fisch und die blauen Pferde von Marc aufgeschreckt in den Krieg von Dix hinein. Kokoschkas Windsbraut riss die Türen der Ausstellungshalle auf: Alltäglich nahmen zwanzigtausend Besucher Abschied von den achtbaren Geächteten.
Einige Tage später: Die Gefolgsleute defilierten ehrfürchtig vor dem Palast, in dem der Retter wohnte.