Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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Mai (4. Bild): Am Nachthimmel über dem Opernplatz zu Berlin breitete sich Feuerschein aus. Doch kein Löschzug erschien im Zentrum. Unter den Linden marschierten Schowi-Kolonnen, oder sie brachten auf Lastautos und Ochsenkarren Bücherballen herbei. Während Blechkapellen musizierten, Licht- und Schalltrichter in Aktion waren, Volkslieder erklangen und die Kameraleute der Universum-Film-AG munter kurbelten, warfen Studenten mit lauten Bannflüchen „undeutsches“ Schrifttum in lodernde Scheiterhaufen. Telepathisch zuckte der Berichterstatter Os im Rotenfeld zusammen. Begeistert begrüßte die Versammlung den Entschluss Ahis, künftig allen Ehepaaren, ausgezeichneten Schülern und Erziehern den „Kampf“ zu verordnen, um jedermann darüber zu belehren, dass sich ein politisches Genie große Versprechungen im Leben und in einem Literaturwerk dreitausend Sprachfehler leisten darf.

       Eine schöne Bescherung

      Doktor Domagk liebte weiße Mäuse. Wenn er sie im gekachelten, wintergartenähnlichen Laboratorium fütterte, pflegte er sie zu streicheln, denn er sympathisierte mit ihrem unzeitgemäßen Kosmopolitismus und Kulturbedarf. Kopfschüttelnd hörte die Assistentin zu, als er den langgeschwänzten Albinos ein langgezogenes Flötenmotiv von Mozart vorpfiff und sie zum Liebestod für die Menschheit zu begeistern suchte. „Stellvertretung bald unerwünscht“, kommentierte ein unsichtbarer Boss.

      Doktor Domagk vervollständigte mit rechtsschräger Schrift, deutsche und lateinische Buchstaben hochverräterisch mischend, Rotauges Chronik und Trimmprogramm. Er zog den weißen Kittel aus und sagte bye-bye. Von Station Westende aus hätte er bequem mit der Schwebebahn in Richtung Vohwinkel fahren können. Aber da er täglich stundenlang auf einem Drehschemel sitzen musste, schien es ihm ratsam, im vierzigsten Lebensjahr etwas gegen Hämorrhoiden und für die arterielle Strömungsgeschwindigkeit von 50 cm/sec. zu tun. Folglich marschierte er allmorgendlich vom Wohnhaus zum Pathologischen Institut und allabendlich zurück ins Zooviertel.

      Doktor Domagk lief durch den Schwarzen Weg und die Tiergartenstraße. Ausblick: bewaldete Höhen, das Wupper-Wasser im Tal, mausgraue Grünanlagen, Viadukte und Villen unter Wolken, die den Dezember milde machten. Anblick: stattlicher Herr mit Vierkantschädel, Fledermausohren, rotbackigem Gesicht, kleinen Augen, fast wimpern- und brauenlos. Einblick: Gedanken an Erdbeeren, steigende Eierpreise, Bakterien, befohlene Volks- und Leistungsgemeinschaft, Abneigung gegen Teamwork.

      „Als ich nach Hause kam“, erzählte der Chef den weißen Mäusen und der Assistentin, „sah ich den Schrei und ein Mädchen in Rot. Unverständlich, warum man mich nicht gerufen hatte. Von Ihnen, geschätzte Mitarbeiterin, wäre in vergleichbarer Situation sicher ein Telefonat geführt worden?“ Da sie nickte, sagte er: „Falsch! Die Experimente eines Forschers darf niemand stören. Wissen Sie, es gab nur ein bisschen Aufregung, weil mein Töchterchen Hilla beim Spielen eine Nähnadel zum Impfen benutzen oder die Festigkeit des Handwurzelknochens testen wollte. Kurzum, die Spitze brach ab, Geheul brach aus, ein Kollege von der Chirurgie entfernte den Fremdkörper und verschrieb der kleinen Patientin schmerzstillendes Brausepulver.“

      Nun setzte der Pharmakologe die Versuchsserie fort. Er würzte Eibouillon mit Streptokokken, angelte nacheinander am Rückenfellchen zwei Dutzend Mäuse aus dem Gehege und lud sie zum Karma-Yoga ein. Per os verabreichte er ihnen mittels Kanüle die Mikrobensuppe und animierte die Tiere zum Fifty-fifty-Spiel. Nach einer Stunde (und nochmals am Nachmittag) durfte nur Rotauges Truppe erneut zur Nackenmassage antreten und zugleich je einen Kubikzentimeter basischen Azofarbstoff schlucken. Diese Prontosil-Limonade tropfte Domagk auch auf Spaltpilzlösung in Reagenzgläsern. Bald darauf untersuchte er sowohl Gewebeproben der beiden Mäuse-Korporationen wie den Pilzschnaps unterm Mikroskop und gewahrte mennigrote oder tintige Pünktchen, die in bestimmten Präparaten gleichsam wegtauten. – Am nächsten Tage meldete Rotauges Chronik das muntere Überleben seines gesamten Clans und das klägliche Abnibbeln der separierten, unversorgten Mäuse-Elf.

      In der Weihnachtswoche wurde Doktor Domagk zu Hause vom Chirurgen erwartet, der eine ernste Aussprache wünschte. Trotz korrekter Entfernung der Nadelspitze, erklärte der Kollege, und trotz mehrerer Inzisionen habe sich der Zustand der kleinen Kranken überraschend verschlimmert. Die Ausbreitung der Phlegmone sei in einem Maße bedenklich, dass er, sozusagen, dringend die Amputation des Unterarms empfehle. „Fällt Ihnen gar nichts anderes ein?“, fragte der beglückte Vater. „Hoffentlich möchten Sie das Pfötchen nebst Elle nicht sofort in der Aktentasche mitnehmen. Ob Sie sich mit der famosen Spirituskonservierung noch ein wenig gedulden können? – Recht herzlichen Dank!“

      Nach der Verabschiedung des Arztes stand der Forscher lange an Hillas Lager, wo er seine Forschheit rasch verlor. Ach, es sah wirklich übel aus mit dem lieben Kind: Patscherl wie Bärenpranke, Schüttelfrost, anhaltendes und ansteigendes Fieber, alarmierende Blutbildbefunde. Natürlich lag eine Infektion vor. Aber während man bei Bayer & Co. die Erreger fernster Tropenkrankheiten entdeckt und bekämpfbar gemacht hatte, gab es gegen viele europäische Seuchen und die Streptokokken dieser simplen Sepsis noch fast keine geeigneten Mittel.

      Was tun? Wenn nicht bald etwas geschah, würde Hilla tatsächlich nur durchs Hackebeilchen zu retten sein. Vielleicht sollte man versuchen, alle Faktoren bedenkend, die verursachenden Bakterien zu bekriegen? Nun ja, durch Prontosil-Gaben wie bei den weißen Mäusen. Die jüngsten Experimente hatten doch zuverlässige Wirkungen erwiesen und ohnehin eine Anwendung in der Humanmedizin nahegelegt. Warum zögerte er? Uff! Weil ein Mädchen eben kein Mäuschen war. Weil das an Tieren erprobte Sulfonamid beim Menschen, bei einem liebsten Menschen, nicht unbedingt dieselben Reaktionen und Heileffekte hervorrufen musste.

      Um Himmels willen, wenn seine Frau ahnte, welche Wagnisse er erwog! Als er dann sehr behutsam um ihre unumgängliche Zustimmung zur eventuellen Chemotherapie bat, antwortete sie ungewöhnlich pathetisch: „Ich schenke dir mein Vertrauen.“ Das erleichterte ihm seinen Entschluss keineswegs. Vertrauen? Er selbst brauchte es vor allem, denn wenn seine Forschungsergebnisse an Rotäuglein und weißen Mäusen im Mindesten trogen und sich in Großorganismen nicht bewährten, hegte er jetzt mörderische Gedanken. Mit einem Male fühlte er sich ungeheuer einsam, zumal ihm bewusst wurde, dass er sich zur riskanten Injektion bei einem fremden Menschen leichter bereitfände … Unterdessen begann Hilla von einem Zeppelin zu fantasieren, auf dem sie schwimmen und Blumen pflücken wollte, doch ihr Arm sei „so komisch schwer“ wie ein Ruder.

      Erschrocken fuhr Doktor Domagk auf. Offenbar galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Aus einem Medikamentenkästchen entnahm er drei Ampullen mit je fünf Kubikzentimetern Prontosil solubile, bereitete daraus ein Klistier und führte dem benommenen Kinde die Sonde ein. Außerdem gab er ihm Prontosil-„Limonade“ zu trinken. – Obwohl nichts Bedrohliches geschah, wagte er nicht aufzuatmen. Im Tierversuch pflegten sich Auswirkungen erst nach Stunden zu zeigen; wie nun, wenn er die Droge zu hoch dosiert hatte? Unruhig kontrollierte er Atmung, Pulsschlag und die unverändert hitzige Körpertemperatur der kleinen Tochter, deren Brechreiz er durch Luminal überwand. Vor dem Einschlafen verordnete er ihr tapfer eine weitere Prontosil-Tablette.

      In der Nacht wachte der Vater in Hillas Zimmer. Nachdem er die Stehlampe zur Bettseite hin abgedunkelt hatte, saß er lesend im Lehnstuhl. Er blätterte in einer Zeitung, die von erstaunlichen Protesten der Bekennenden Kirche gegen die „falsche Lehre“ und Herrschaftsanmaßung weltlicher Behörden berichtete, von Volksgerichtshof, Hamsterkäufen und Winterhilfswerk. Dann vertiefte er sich in die Geschichte eines Wahrheitssuchers.

      Im Helden erkannte er seine eigene Forscherneugier wieder: die Fahndung nach dem Bösen. Obwohl Gutes gelang, misslang das Bemühen um Weltverbesserung, weil die bedeutsame medizinische Erfindung auch Gesundheitsindustrie und Geschäfte mit der Krankheit ermöglichte. Musste sich der Entdecker rechtfertigen? Ließ sich sein Tun nicht vergleichen mit zwanghaftem, befreiendem Kunstschaffen, wobei experimentelle Präzision undenkbar war ohne Fantasie? Aus der Kriegserfahrung ärztlicher Machtlosigkeit erwuchsen produktive Ideen … Über die

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