Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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Antwort schien den Knaben zu befriedigen. Sein Schlafzimmer, in dem so viele Träume waren, kam ihm nicht mehr allzu gespenstisch vor. Vergnügt guckte er seine schöne Mama an, über deren Augen sich beim Herniederneigen große Lider wölbten. Plötzlich fragte er: „Und wo war ich, als ich noch tot war?“

      Frau Dagmar wunderte sich über ihren Sohn. Sie bemühte sich jedoch um behutsames Verständnis und erzählte, wie er einst in ihrem Bauch und vorher vielleicht beim lieben Gott gewesen sei.

      Da Guido dem „alten Petzer“ misstraute, erkundigte er sich nach dem „einst“ und „vorher“. Ob eine Stunde so lang sei wie eine Hand oder ein Arm? Auf der Uhr könne man ja die Zeit auch sehen und messen! Warum man die Wochen nicht aufessen könne, damit sie schneller weniger werden? Ob gestern und heute dasselbe sei?

      Die Mutter schüttelte den Kopf, worauf Guido erinnerte: „Aber gestern hast du gesagt, dass heute morgen ist.“

      „Ja, mein Junge, das ist eine verrückte Sache. Weißt du, heute war gestern und morgen, und heute ist eben heute, ebenso wie gestern heute war und morgen so viel wie heute sein wird.“ Allmählich ging Frau Dagmars Geduld zu Ende, doch das Büblein dachte sich immer neue Fragen aus, um sie am Fortgehen zu hindern: Warum heißt der Stuhl nicht Tisch? Warum fängt man mit eins zu zählen an? Warum fragt man warum? Schließlich: „Warum lebt man eigentlich?“

      „Um lieb zu sein, Prinzchen.“

       Zeitansage, 5. Jahr

      26. Januar: Im Düsseldorfer Herrenklub sprach Ahi, der ehemalige Zirkusstar und Kehlkopfartist, wieder einmal über das kommende Reich der Liebe. Vor dreihundert versammelten Bankiers, Magnaten, Generaldirektoren und Geldnehmern redete er bewegt über seine pekuniäre Not und darüber, dass nur großzügige Geldgeber von heute ein Anrecht auf die Fülle von morgen hätten. Im Machtstaat der Zukunft werde er bolschewistische und demokratische Schweinereien unerbittlich ausrotten und zugleich riesige Lebensräume erkämpfen lassen für Volk und Volkswirtschaft. Durch diese Liebesbeteuerungen gerührt, öffneten die Industriellen den Fonds der Fronde und spendeten raschelnde Papiermillionen für die baldige Aufwertung der Deutschen Mark. – Unterdessen machten fröhliche Schowi-Trupps die Bevölkerung mit künftigem Glück bekannt. Sie verkündeten das freie Zeitalter der Rowdies, zogen musizierend durch die Straßen und benahmen sich heldisch, indem sie zu zwölft einzelne Leute verprügelten, lachend alte Weiber auszogen und in Gaststätten sorgfältig Mobiliar zerholzten. Selbstverständlich wiesen sie den Vorwurf des Terrorismus entrüstet zurück, denn Wildwestspiele und Zahngoldspuckreize seien Ehrensache und patriotische Taten von Revolutionstribunalen. Da die Gesetze der Republik eine derartige „ritterliche Opposition“ schätzten und schützten, gönnte der Boss seinen Getreuen tägliche Silvesterknallereien, Schadenfeuer und Schießübungen in Arbeitervierteln. – Sechs Monate später wählten siebenunddreißig Prozent des Volkes das demonstrierte Heil.

      12. August: Besorgt über die Entartung des politischen und privaten Lebens erließ eine hohe Behörde Notverordnungen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Sittlichkeit: Verbot von staatsgefährdender Freikörperbewegung, aufreizender Badekleidung, Nacktszenen im Theater, Film, Revue und Varieté; Gebot von christlichen, bauch- und busenverhüllenden Damentrikots und von züchtigen Zwickeleinsätzen in den zur Wasserbenetzung bestimmten Hosen der Herren. – Bei hochsommerlichen Temperaturen von dreißig Grad inspizierten Polizisten mit Ferngläsern die See- und Strandbäder des Reiches und erhoben von aufsässigen Nudisten Bußgelder bis zu 150 Mark. Unbefugte Flurhüter klebten in Erholungsparks auch auf unkeusche Plastiken die blauen Zahlungsbefehle des Regierungsamtes.

       Doktorspiele

      Wo hatte der Bengel nur diese Ausdrücke her! Sehr vergnügt sagte er „Arschloch“ und „Furz“. Obwohl ihn die Mutter darüber belehrte, dass man „so etwas“ nicht ausspreche, wiederholte er die Würzworte unentwegt. Da er auf Tadel lediglich durch gespanntes Aufblicken reagierte, entschloss sie sich dazu, einfach nicht mehr hinzuhören, bis Guido triumphierend verkündete: „Und vögeln kann ich auch noch.“ Nun lachte Frau Dagmar, denn es hätte vulgärer lauten können. Pädagogisch lobte sie die wunderschöne Benennung und fragte, ob sie wohl wissen dürfte, was das sei.

      Er erklärte: „Na, wenn die Kinder nicht mehr tot sind.“

      Sie meinte: „Aber dann wachsen sie doch im Bauch einer Mama.“

      „Und wie kommen sie dort hinein?“

      Es ergab sich ein ganz vernünftiges Gespräch über Ursprünge, Geburt und die Möglichkeit des anfänglichen „Lebens im Finstern.“

      Beim Zeichnen offenbarte Guido weitere Spezialkenntnisse. Er malte Impressionen und Dada-Bilder mit grünem Himmel, gelbem Wasser und blauen Häusern, in denen Tische und Wallachsofa sichtbar waren. Ferner überragende Menschen, deren Melonenhäupter bisweilen zwei Nasen, drei Augen und aufgeklebte Dreieckshüte trugen. Auf unbekleideten, transparenten Rumpf-Ellipsen erschienen Herz, Magen und auffällige Fransenmarkierungen. Ungefragt erläuterte der Junge: „Die Frauen haben Haare unterm Bauch, damit man nicht sieht, wo der Puller fehlt. Und die Männer haben Haare auf der Brust, damit man nicht sieht, wo die Kullern fehlen.“

      „Das sind ja lustige Ansichten“, bemerkte die Mutter. „Dann müsste auch unter den Haaren auf dem Kopf bei den meisten Leuten etwas fehlen.“

      „Vielleicht Gehirn?“, mutmaßte der Sohn.

      Dieser Annahme und jener von den eventuellen Vorzügen der Scheitelplatte des Vaters vermochte Frau Dagmar wenig entgegenzusetzen.

      Etwas beunruhigt über Guidos Frühinformiertheit beobachtete sie ihn diskret bei seinem „Tagwerk“. Neben bunten, bizarren Malereien beschäftigte er sich damit, im Sandkasten Tunnel für Eidechsen zu graben und einen Swimmingpool für zwei Laubfrösche, deren Wetterprognosen er allerdings durch eifriges Begießen beeinträchtigte. Gern fuhr er mit dem Dreirad an Beerensträuchern entlang, um Grün-Weiß-Rot zu ernten. Besonders liebte er den Zauber des Winkels. Indem er über Stühle, Pfähle und Gezweig alte Decken spannte, schuf er Räume im Raum, geheimnisvolle Séparées, in denen er stundenlang hocken und sich im Verborgenen geborgen fühlen konnte.

      Nur Annette durfte ihn in den Höhlen besuchen, während sie sonst meistens seine Partnerin in der Dreschschule, im Kaufmannsladen oder in „Himmel und Hölle“ war. Wenn sie Vater und Mutter miteinander mimten, verlangte der Junge merkwürdigerweise oft nach der Frauenrolle und den „väterlichen“ Zärtlichkeiten des schwarzhaarigen Mädchens.

      Über allen Spielen stand jedoch das Doktorspiel. Innerhalb von zwei Stunden bekam Annette mindestens ein Dutzend Krankheiten, Knochenbrüche oder Verwundungen, die Guido gewissenhaft untersuchte und heilte. Er beklebte die Patientin kreuz und quer mit Pflaster, kurierte Blutvergiftungen mit Brausepulver, Kopfweh mit Bonbontabletten und die Masern mit Vasenolpulver. Zu den Höhepunkten der ärztlichen Universalbehandlung gehörten Zahnziehen, „Beißerchenbohren“ und beherzte chirurgische Schnitte über der Magengrube. Als die Freundin einmal eine Medizin gegen Bauchschmerzen verlangte, hielt der kleine Praktiker eine gründliche Inspektion unterhalb der Gürtellinie für erforderlich. Er musste einmal nachschauen, wo gemäß mütterlicher Auskunft die kleinen Kinder herauskamen. Behutsam betastete er die Weichteile zwischen Nabel und Steißbein, betrachtete interessiert die Leistenbeuge und stellte schließlich fest: „Ach, herrje, du hast ja zwei Pos. Wie lütt müssen Babys sein, die da rauskriechen können.“ Um der armen Kranken Linderung zu verschaffen, verordnete er ihr ein Klistier, was freilich

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