Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher

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      Nachdem Lehrer Krause seine gamaschenumwickelten Beine ausgestreckt, den rechten Arm entblößt und den Bizeps angespannt hatte, ließ er die kichernden Schüler der dritten Klasse vorbeimarschieren und „kartoffelharte“ Muskeln befühlen. Gleichzeitig sprudelten aus dem breiten Mund seines treuherzigen Froschgesichts unablässig Worte hervor über erstrebenswerte „Kraft durch Klimmzüge“ und Übung, die dreister machte. Der Magister ermutigte alle Jungen dazu, sich zu trimmen wie er und zu Ruhm und Ehre des Vaterlandes athletische Formen zu gewinnen.

      Im Unterricht erzählte er vom olympischen Fest der siebenundfünfzig Nationen, bei dem sich die deutschen Sportler als die besten der Welt erwiesen hätten. Nirgends gäbe es ähnlich vorzügliche Speerwerfer, Boxer und Reiter, aber auch nirgends vergleichbare Erfinder und Soldaten, Ochsen, Schweine und Puffbohnen. Unter Führung Ahis sei Deutschland ein Riesenkurort und das schönste, bedeutendste und stärkste Land auf Erden geworden.

      Zu Hause fragte Guido, wie lange man laufen müsse, um von einer Grenze des Reiches zur anderen zu gelangen.

      Frau Dagmar lächelte und meinte, wenn er täglich nur zehn Kilometer wandere, also wie von Paradies nach Friedburg, brauche er sicher drei Monate dazu.

      „Und wie lange geht man um die ganze Welt?“

      „Um Himmels willen, Prinzchen! Da wärst du bestimmt mehr als zehn Jahre unterwegs. Doch schaue es dir selber einmal an!“

      Im sogenannten Herrenzimmer sah er auf einem medizinballgroßen Globus, den er bisher wenig beachtet hatte, das blaue Band der Meere und darin gesprenkelte, flundernförmige Kontinentalgebilde. Ein pausbäckiger gelber Fleck hieß China, über Kanada lag eine grüne Sattelschrecke, die Vereinigten Staaten bewachte ein silbergrauer Bär, Brasilien leuchtete wie eine Ocker-Unke, und Australien schwamm wie eine violette Muschel im Ozean. Am auffälligsten fand der Betrachter eine weiträumige fuchsrote Fläche, in der er den Namen Sowjetunion entzifferte.

      Als die Mutter auf eine braune Warze am asiatischen Hals hinwies und sagte, das sei Deutschland, schüttelte Guido ungläubig den Kopf. „So lütt? Das ist ja nicht mal so dick wie mein Daumen, der –“ er ließ die Finger der Hand wie ein Klavierspieler über die Tasten der Längengradmarkierungen gleiten – „siebzigmal auf die Kugel passt. Wie können wir die Stärksten sein, wenn wir so klein sind?“

      „Ja, mein Junge, das möchte ich auch gerne wissen.“

      Ein bisschen beunruhigt entließ sie ihn zum nachmittäglichen Spiel mit dem Bauernsohn Martin, der sich grinsend als Guidos rätselhafter „Wahlmann“ beim schulischen Beliebtheitstest zu erkennen gegeben hatte. Vermutlich ging von dem stämmigen, verkniffen blickenden Burschen kein günstiger Einfluss aus, aber man musste wohl froh sein, dass er eine gewisse kindliche „Liebesaffäre“ vergessen half. Zu Beginn der Freundschaft bemühten sich die beiden, in olympischem Geiste Rekorde aufzustellen im Weitpissen (4 Meter) und Eisessen (1 Kilo pro Stunde). Erfreut über die respektablen Ergebnisse machten sie Shakehands und den Plan, die Zulässigkeit des Bösen im heimatlichen Paradies zu erproben.

      Wie Verschwörer steckten sie die Köpfe zusammen, wobei es Guido war, der die abscheulichsten „Experimente“ ausdachte und vorbereitete. Von den Schnüren ihrer Eibenholzbogen schnellten die Büblein Pfeile auf Vögel ab, deren Federn sie als Trophäen begehrten. Unbekümmert sezierten sie Feuersalamander und schmierten Drüsengift auf Speerspitzen, mit denen sie ominöse Igel und streuende Katzen durchlöcherten. Gierig beobachteten sie, wie Ameisen einen Käfer skelettierten oder eine Gottesanbeterin den begattenden Partner auffraß, denn danach bereitet es unheimliches Vergnügen, sowohl Killer wie Gekillte zu zertrampeln. Katapulte dienten zum Fensterscheibenbeschießen, aus Verstecken warfen die Knaben Grasbüschel und Kletten auf sauber gekleidete Passanten. Der „alte Petzer“ im Himmel schwieg dazu und enttäuschte, weil er offenbar nicht mal einen strafenden Blitz zu schicken vermochte. Am interessantesten fanden die Jungen eine Lupe, die sie als Brennglas zum Anzünden der ersten Zigaretten benutzten, aber auch zum Ausräuchern von Wespennestern und Schmoren arglosen Kleingetiers. Das Absengen von Hummelflügeln nannten sie „rasieren“, das Verglühen einer Raupe „sonnenbaden“, und göttlich-koddrig atmeten sie jeden Opfergeruch ein. Als Dr. Möglich seinen Sohn eines Tages bei der „Punktbestrahlung“ einer weißen Maus ertappte, holte er zu einer Backpfeife aus. Guido lief davon, der Vater trappelte hinterher. Guido kletterte auf eine Pappel, der Vater schimpfte. Guido lachte sehr frech und sprang plötzlich aus drei Meter Höhe hinunter, wobei der Vater spontan Hilfestellung leistete. Schwer atmend standen sie sich gegenüber.

      „Schämst du dich gar nicht, wehrlose Tiere zu quälen?“

      „Nein, denn du selbst hast mir beigebracht, dass ich tun soll, was ich nicht tun möchte.“

      Seit dem väterlichen „Abhärtungskursus“ reizte es Guido in der Tat, Widerwärtiges entschlossen anzupacken, Furcht zu überwinden und sich mutwillig in Gefahr zu begeben. Wenn er nun auf dem Dachfirst herumkletterte, mit Freunden Messerwerfen „auf den Mann“ übte oder sich selbst ein Feuermal auf die Haut brannte, hatte er die Genugtuung, dass sich der „Alte“ offensichtlich mehr ängstigte als er. Schließlich zog sich Theo resignierend in seine Studierstube zurück und überließ Frau Dagmar die weitere Erziehung des Sohnes.

      Ach, welch komplizierte Psychologie der heranwachsenden Jugend! Gemäß den Lehrbüchern müsste das Bürschlein in dem Alter noch friedlich mit Kreisel und Murmeln spielen und einen guten Mitteilungsdrang entwickeln. Stattdessen diese sadistischen Entartungen und verspäteten Trotzreaktionen. Oder handelte es sich bereits um frühreife pubertäre Allüren? Ob der Schlingel wohl bald zur Besinnung kam und die besten väterlichen Absichten anerkannte?

      Zur ärztlichen Sprechstunde erschien (wie gerufen) Lehrer Krause, der über ungewöhnliche Schlaflosigkeit klagte. Während der Routineuntersuchungen (Auskultation, Perkussion, Blutdruckmessung) erkundigte sich Dr. Möglich jovial nach den „Heldentaten“ seines Sprösslings, und er hörte mit Erstaunen von dessen andauernder „Verträumtheit“.

      „Einatmen, ausatmen! Husten Sie mal! – Und Guido, meinen Sie, schläft im Unterricht besser als Sie in der Nacht?“

      „Wahrscheinlich, Herr Doktor, obwohl er bei Fragen aufgeweckt wirkt und eigentlich stets gescheite Antworten gibt.

      Erst kürzlich hat er einen Text über das Dämmerungssehen leuchtäugiger Tiere erfreulich ergänzt durch den Hinweis, dass sich echopeilende Delfine sogar in absoluter Dunkelheit zurechtfinden.“

      ‚Nanu!‘, dachte Theo Möglich. ‚Das weiß er doch nicht von mir!‘ Dann sagte er: „Ihr Herz ist ein bissel huschlig. Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten?“

      „Ich bin seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet, Herr Doktor.“

      „Hm! Und weitere Kalamitäten, bitte? Zum Beispiel in der Schule? Da Sie mein Sohn merkwürdigerweise nicht ärgert, treiben es andere Jungen vielleicht ärger.“

      „Nach zwanzig Dienstjahren, Herr Doktor, glaube ich den Anforderungen meines Berufes gewachsen zu sein.“

      „Na, mein Lieber, Ihr Herz scheint aber nicht ganz mitgewachsen zu sein, sonst würde es nicht so puppern. Wer weiß, was Sie für ein unordentliches Innenleben haben! Und nun denken Sie, der olle Möglich wird die verheimlichten, schlafhemmenden Konfliktchen schon mit seiner chemischen Kriegführung aus dem Nischel jagen. So einfach ist das nicht, lieber Herr Krause, zumal unsere üblichen barbitursäurehaltigen Hypnotika meistens die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.“

      „Das möchte ich allerdings nicht riskieren. Und was empfehlen Sie

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