Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther
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KLEINE VORBEMERKUNG
1970, bei meinem ersten Gespräch in der Redaktion der „Weltbühne“, einem Blatt mit radikaldemokratischer, bürgerlich linker Tradition aus den zwanziger Jahren und eben deshalb mit einem Resthauch von Exklusivität innerhalb der kahlgeschlagenen DDR-Presselandschaft, sprach der betagte, welterfahrene Chefredakteur Hermann Budzislawski zu mir mit Emphase: „Junger Mann, stoßen Sie die Fenster auf, es riecht muffig in diesem Land!“ Höchst erstaunt und wild entschlossen, dieser nie zuvor gehörten Ermunterung nachzukommen, musste ich nach dem ersten leichten Berühren der Fenstergriffe jedoch erfahren, dass sie abgeschlossen waren und die Schlüssel, gut bewacht, sehr viel weiter oben lagen. Als ich die Idee hatte, Interviews mit von mir ausgewählten Arbeitern zu machen und tolldreist ins Exposé schrieb, die Protokolle sollten zeigen, wie die Arbeiter im Lande ungeschönt redeten und was sie wirklich dächten, da war es mit mir bei der „Weltbühne“ schnell vorbei. Der Ermunterer war bereits im Ruhestand, und ich, noch immer im Unruhestand, machte weitere Erfahrungen bei anderen Blättern, die sich zunehmend glichen, die Erfahrungen wie die Blätter. Eine Genossin Redakteurin schrieb ein Interview mit mir kurzerhand und weitgehend um und erwiderte auf meine Proteste: Ganz im Gegenteil, ich solle ihr dankbar sein, denn nur so sei druckbar, was ich gesagt und sie geschrieben hätte. Der hinzugezogene hartleibige Genosse Chefredakteur wies meine anhaltende Entrüstung mit dem jede Diskussion beendenden Hinweis auf den sich ständig verschärfenden Klassenkampf sowie den niemals schlafenden Klassenfeind als politisch falsch und mithin unzulässig zurück. Nach solchen und weiteren Lektionen ließ ich als DDR-Insasse all meine publizistischen Hoffnungen fahren.
Dann allerdings kam das Jahr 1989 und es begann nach Revolution zu riechen. Vorsichtig erst, dann immer stärker tat sich höchst Erfreuliches. Zum Beispiel erwachte in den Redaktionen nach und nach das Ethos des tot geglaubten, freien Journalismus. Nachdem der Putz schon länger von den Wänden war, knirschte es nun auch in den rostigen Staatsscharnieren, es bogen sich die lügegetränkten Balken, es rieselte hörbar der Kalk der dogmatischen Hirne, und es war eine Lust, nicht nur die Fenster, sondern auch die Türen aufzustoßen!
Und schließlich, historisch gesehen schon wenig später, der Jahrhundertschritt in die bisher verweigerte Offenheit: die Freiheit des Wortes, der Meinung, der öffentlichen Medien als vierter Gewalt. Nur wer meinte, mit dem Fall der Diktatur sei auch das Ende aller gesellschaftlichen wie individuellen Unzulänglichkeiten oder gar der Geschichte gekommen, konnte enttäuscht werden. Wer wie ich froh war, sich nun endlich unbevormundet den tatsächlichen Problemen zuwenden zu können, stürzte sich ins Vergnügen der publizistischen Arbeit, die allerdings konkret nicht immer so vergnüglich war.
Zunächst ging es vor allem um das Aufarbeiten der jüngsten Vergangenheit, das ein offen und verdeckt geführter Kampf um das Erinnern, gegen die Gefahr einer zweiten deutschen Verdrängung wurde. Im Kern ging es um das engagierte und kritische Begleiten von notwendigen Transformationsprozessen: von überholten Strukturen, von gestocktem Bewusstsein, von zementierten Geschichtsbildern, einer Bewegung vom Geschlossenen hin zum Offenen, kurz und etwas pathetisch, der Verteidigung der individuellen Menschenrechte wie der Grundwerte einer zivilen und offenen Gesellschaft. Eine Aufgabe, weiß ich heute, die niemals zu Ende ist.
Insofern sind diese publizistischen Texte auch Zeitzeichen einer Zeitenwende, deren befreiende Wirkung allein an der Zahl der vor und nach der friedlichen Revolution entstandenen und hier abgedruckten Beiträgen ablesbar ist.
Meine persönliche Zeitrechnung beginnt denn auch mit dem Jahr 1989.
Joachim Walther
Mehrow, den 22. Januar 2017
JOURNAL EINER NACHSAISON
Die Insel ist exklusiv, weil sie eine Insel ist. Sie wirbt mit ihrer Einsamkeit. Jährlich besuchen eine Viertelmillion Menschen die Insel. Kein Mensch braucht sich hier einsam zu fühlen, irgendjemand passt immer auf. Wegen des interessanten Vogelzuges und meist sehr ausgeglichenen, warmen Herbstwetters wird diese Zeit von Kennern bevorzugt, weiß „Unser kleines Wanderheft“, Heft 116. Alle, die keinen Sommerplatz bekamen, werden zu Kennern emporgetröstet. Die Sonne fühlt gerade noch unters Hemd. Der Wind fetzt zwischen Haut und Muskel. Die Landschaftsform wie der Untergrund entstanden im Pleistozän und Holozän, liest man. Die Natur soll weitgehend unberührt sein. Die beschilderten Wanderwege sind ausgetreten. Vor der Westküste kreuzen Kampfschiffe. Das Herbstmanöver hat begonnen. Jeden Morgen landen Leute mit Eimern, um den Sanddorn zu melken. Der berühmte Goldschmuck der Insel wurde 1872 gefunden. Nach einigen Zwischengliedern wird noch immer gesucht. Das Original liegt im Tresor der Kreisstadt. Eine Nachbildung ist im Heimatmuseum der Insel zu besichtigen. Verkleinerte Nachbildungen sind im Andenkenhandel erhältlich. Die Insel wird künstlich als Insel erhalten. Sie wäre längst mit dem Festland verwachsen.
Die Bewohner der Insel unterscheidet man in echte Bewohner und unechte Bewohner. Die echten haben hier ihr Geburtshaus. Die unechten haben lediglich Geld.
Die echten Bewohner heißen fast alle Gau, Gottschalk oder Schluck. Im Winter ist die Verbindung zum Festland schwierig, auch heute noch. Die Kinder sind hier alle strohblond. Früher waren die echten Bewohner berüchtigte Strandräuber. Vor Jahren strandete ein Schiff mit Seife an Bord. Der Insel-Konsum verzeichnete einen dramatischen Verkaufsrückgang dieses Artikels. Es wurde mit Sunlicht gewaschen. Das letzte gestrandete Schiff war leer. Darüber wird nicht gern gesprochen. Die wenigsten der echten Bewohner sind noch Fischer. Die meisten der echten Bewohner vermieten Zimmer an Urlauber. Früher sollen sie recht arm gewesen sein. Sie sind freundlich zu den Gästen, sie lachen zu jeder ihrer Bemerkungen. In der Nachsaison sind sie nicht mehr ganz so freundlich. Die Besucher der Nachsaison sind geduldet. Sie vermögen den Gewinn nicht wesentlich zu beeinflussen.
Die unechten Bewohner wohnen eigentlich woanders. Der berühmteste von ihnen war früher ein guter Naturalist, später versuchte er klassisch zu werden. Im Grab trägt er eine Zisterzienser-Kutte, das Neue Testament in den Händen. Unter dem Haupte ruht das unvollendete Spätwerk. Die Glühbirnen in seinem Arbeitszimmer sind noch von seiner Hand eingeschraubt, wird bei der Führung versichert. Eine Puppenschöpferin schöpfte Puppen, die wie Puppen aussahen. Sie wurde deswegen berühmt. Ihr Mann war ein Berliner Holzhändler, der malte. Er ließ eine Burg bauen, die ist bekannt. Ein namhafter Architekt baute hier ein Haus mit schiefem Dach. Nebenan wohnte Asta Nielsen. Auch Thomas Mann war hier. Von den Lebenden kennt man den Namen Felsenstein. Auch der Pfarrer der Insel gehört zu den unechten Bewohnern. In Gesprächen betont er wiederholt, er habe schon in der Hauptstadt des Landes gesprochen. Wenn er von Gott spricht, zeigt er die Handflächen und spreizt die kleinen Finger. Die echten Bewohner finden ihn merkwürdig. Die Alten der Insel sagen, ihr Gott sei das Meer.
Die übrigen Urlauber besitzen kein Haus auf der Insel, sie werden vermittelt. Manch einer vermittelt sich selbst, er hat Beziehungen. Langjährige Inselurlauber tragen ihr Insel-Bewusstsein offen. Die Urlauber suchen die Einsamkeit und stören sie dadurch. Es gibt viele, die allein auf die Insel fahren. Sie wollen mit etwas fertig werden. Autos sind hier verboten. Hunde dürfen bellen. Sie bellen ihr Nachtpensum tagsüber rückwärts. Die Urlauber beiderlei Geschlechts tragen Nylon-Anoraks. Die Frauenbeine bekleiden Silastikhosen in Keilform. An den Männern hängen Kameras und Ferngläser. Ein Urlauber fand vor einiger Zeit am Enddorn einen Mammutbackenzahn.
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