Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Das Blöken der Wölfe - Joachim Walther

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Zur Schildkröte. Auf dem Tresen liegt ein Schildkrötenpanzer, die Bewegungen des Wirtes stehen in keinerlei Widerspruch zum Namen seiner Stampe. Das Kreiskulturhaus Erich Franz beherbergt unter anderem den Gehörlosenverband, dahinter liegt die Schultheiß-Brauerei, früher AG, jetzt VEB, das Berliner Bier ist süffig. An dieser Stelle stoßen die U-Bahngleise durch die Erde, die Dezibelwerte steigen. Unter dem U-Bahnbogen steht Konnopkes Imbisshalle: Curry Brat Bock Wiener Knacker Brühe, was woll’n Se? Berlin ist ein sprachlicher Schmelztiegel, gegenwärtig werden Thüringer und Sachsen eingeschmolzen. Früher die Ostpreußen und so weiter, jetzt sind sie die typischen Berliner. In der Telefonzelle daneben kann nur gesprochen werden, zu hören ist nichts.

      Denn da ist die große Kreuzung. Sechs Straßen schlagen auf sie ein. Drei Verkehrspolizisten schlagen zurück. In der Mitte parkt ein Messwagen für Luftreinhaltung. Sauerstoff wird in Berlin auch immer seltener. Nur Sonne macht die Stadt erträglich, sonst ist sie grau, von schwarz in allen Nuancen grau. Weiß ist nicht. Dafür ist es außerhalb schöner, dort wo die Datschen stehen. Wer noch keine hat, soll sich melden. Die Kreuzung ist für viele der Mittelpunkt der Stadt, am Alex wurden neulich zwei Feldhasen gesichtet. Der alte Mann mit dem Pilotenhelm aus Leder ignoriert die Anweisungen der Verkehrspolizisten, vielleicht ist er gerade Baron von Richthofen. Horizont sagt mehr, sagt Horizont, oben am Geländer des U-Bahnhofes Dimitroffstraße.

      Die Bars Lolott und Lotos sind Räume mit einer Bar. Bei Glas-Müller stehen Gartenzwerge, schlimmer allerdings ist die Porzellan-Nackte im Schaufenster, sie streichelt einen Porzellan-Karpfen. Kunst braucht keine Erklärung.

      Gegenüber ist der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, ein Aufsteller kündet von einem Fußballspiel. Berliner nennen den Sportplatz noch immer Exer. Weil nämlich Wilhelm Griebenow 1825 die Fläche für 9.518 Taler als Exerzierplatz an den Militärfiskus von Berlin verkaufte. Vor der Einsamen Pappel versammelten sich 1848 circa 25.000 Berliner, die Berliner Luft roch damals zeitweise nach Revolution. Die Versammlung datiert den Beginn der Berliner Arbeiterbewegung, eine Tafel erinnert daran, die Pappel ist neu und klein.

      Ein Schüler mit blauem Halstuch pfeift eine Melodie aus My fair Lady, etwas falsch, doch nicht ohne Sachkenntnis. Zwei kleinere Kinder schmeißen nach ihm mit Erbsen, ein Mann im Sakko mit übergeschlagenem Sommerkragen wird getroffen, die beiden auf dem Balkon sind abgetaucht. Übrigens wäre die Straße ziemlich reizlos, denkt man sich die Häuser weg. Die Architekten haben trotzdem einen Prozess verdient, so was verjährt nicht.

      Ein Geschäft für Orthopädie und Bandagen legt fleischfarbene Gliedmaßen aus, nebenan gibt’s Goldbroiler und Chips. Das Restaurant Stockinger ist innen gediegener Kitsch und gibt sich nach außen exklusiv. Spezialgeschäfte rechts und links, ein Kellerladen noch, dort gibt es fast alles. Das Kino Colosseum war früher Pferdebahnhof, die Pferde wurden vom Strom erlöst und der Bahnhof von den Pferden. Jetzt galoppieren nur noch Filmpferde. Die Gleisarbeiter haben ihre Hemden ausgezogen. Vor den Treppen zum U-Bahnhof macht eine Wurstbude Konnopke Konkurrenz, sie hat entschieden weniger Sorten. Und dann kreuzen Straßenbahn U-Bahn S-Bahn, früher hieß die Ecke hier Nordbahnhof, jetzt heißt nur die Kneipe noch so: Zur Nordbahn. Humtata gibt’s im Hinterhof bei Giovanni Bacigalupo, dem Drehorgelbauer. Eine Pantomimengruppe sucht Leute. Hausfrauen tragen Taschen und Netze, sie sehen aus, als hätten sie alle einen Gedanken. Am Zebrastreifen gibt es einen Stau von acht Fahrzeugen, der Verkehrspolizist lehnt am Geländer und schwitzt. Die Straße gähnt noch einmal vor dem zweiten großen Sturm.

       3 FÜNF UHR ABENDS

      Die Straße brüllt. Stöhnt blaue Schwaden, riecht nach Benzin und Räucherfisch, hoch wirbelt Staub. Dreispurig heulen Blech und Elaste und Plaste stadtauswärts, stadteinwärts, Mopeds und Fahrräder nahe der Bordkante. Spitzenzeit, oben die U-Bahnen, Berufsverkehr, die Straßenbahn ist gelb, die U-Bahn gelber, die S-Bahnen tunneln donnernd die Straße, der Boden bebt, einfahrende Züge zischen Druckluft, ein Dampfzug zerfasert bauschiges Weiß an der Brückenbrüstung. Der Asphalt – weich wie Haut, Füße treten Pflaster, Teer, Granit.

      Berlin! Wie Donner rattert furchtbar dein Geröchel! / Die heiße Luft sich auf die schwachen Lungen drückt. Ströme branden durch die Schluchten, Menschenströme durch Steineschluchten mit Strudel, Stau und Ziel, maßlos und geordnet doch, Steine-Stadt, Straßen-Stadt, Menschen-Stadt, straßengeäderte Steine-Stadt.

      Der Verkehrspolizist steht regelnd auf der Straßenmitte, er gibt Fußgängern eine Chance, der himmelwärts gereckte Arm lässt Bremsen quietschen. Eiliges Pflastergetrappel und ungeduldiges Motorheulen im schnellen Wechsel. Ein Unfallwagen mit Blaulicht und Sirene, die Straße hält kurz den Atem an, die Worte sind leiser für Sekunden, Hälse werden gedreht, halblaute Bemerkungen, dann ist das vorbei, der Lärm schwillt zu alter Stärke, es ist vergessen. Aus den Bahnen, in die Bahnen drängen Menschen, zielstrebig, mit Stirnfalten: Könn’Se nich uffpassen? Worte mischen sich, He und Hallo, Lächeln, Lachen, Augen gerichtet und suchend, Warten und Hasten, ein flüchtiger Kuss dort und Unterhaken, Treffpunkt zum Einkauf. Wo die Mühle ist zu sehn, wird Dein Einkauf angenehm: Leuchtreklame der HO Prenzlauer Berg an der Giebelwand, Vögel nisten darin. Ein Mädchen in Maxi ruft einen Bärtigen, der hört nicht und geht weiter. Am S-Bahnhof klappert eine christliche Schwester die bekreuzte Büchse, vor der Losbude flattern Nieten zu Boden. Am Zeitungskiosk schrumpft der BZA-Stapel, das Abendblatt berichtet: Junger Mann half. An einem Sonntag stand unser ungarischer Gast, eine ältere Dame, hilflos auf dem Ostbahnhof. Die Post, in der sie uns ihre Ankunft mitteilte, war bis dahin noch nicht eingetroffen. Ohne Geld und Kenntnis unserer Sprache wusste sie nicht, wie sie nach Adlershof kommen sollte. Ein junger Mann, dessen Name uns leider nicht bekannt ist, nahm sich ihrer an. Von Herzen möchten wir ihm für seine Hilfsbereitschaft danken. Helga-Ilse Wons, M. Papp, Adlershof. Dorothea Strelau: An allen Tagen wächst die Veränderung. Heute bin ich ein anderer. Die mich gestern kannten, leben im Irrtum. (Aus: Offene Fenster, Schülergedichte.) Sein Lieblingsmotiv: Berlin und die Berliner. Zum heutigen Geburtstag des Grafikers Arno Mohr. Über die Straße spannt die Werbung: Berliner Zeitung gelesen – dabeigewesen. Der Erfrischungswagen ist stark frequentiert. Der Taxistand ist ohne Taxi. Das Kaufhaus Gewa zeigt Sommermoden. Das Sporthaus Olympia präsentiert Campingartikel. Im Schaufenster des Spielwarengeschäfts werben die Worte: Spielend unsere Welt erkennen, Spieltheorie in Praxis. Ein alter Mann im Rollstuhl verkauft Kämme und Zahnbürsten. In die Autos auf dem Parkplatz steigen Männer in Anzügen, sie lockern den Schlips und öffnen das Schiebedach. Die Gleisarbeiter waschen sich am Bauwagen.

      Die Sonne wirft lange Schatten. Nach fünf nimmt die Zahl der Mädchen zu, sie gehen zu zweit und kichern permanent. Die Frauen tragen schon kleinere Taschen. Vor dem Kino stehen Gruppen, Kofferradios tönen. Die Mädchen hier sind es gewöhnt, angesprochen zu werden, sie haben es nicht leicht, sie möchten es nicht leichter haben. Fragen werden von ihnen mit Fragen beantwortet. Die Fernseher werden eingeschaltet, die Fenster stehen offen. Auf den Hinterhöfen laufen die Fernseher früher und lauter als anderswo. Die Scheiben der Sonnenseite glühen rot. Links schatten die Gesichter blau. Durch die Seitenstraßen wellt sinkende Sonne, riesenrotes Sinken im Westen hinter Lindengrün vor Mauerweiß. Dort enden unsere Straßen, dahinter beginnen neue. Eine andere Welt, wenige Meter nur trennen Tausende Kilometer, die stehen dahinter: Welten. Unvereinbares auch am Ende der Seitenstraßen dieser Straße, zeitlich und räumlich nicht mehr Vorstellbares in dieser Weltendimension.

      Unsere Straße atmet hörbar auf, sie gleitet abendlich in sanfte Offenheit.

      

Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, Mai 1971

       WELTREISE AM ALEXANDERPLATZ

      Warum ist das Haus des Reisens so riesig? Diese Frage überfiel mich jählings, als ich neulich den Alexanderplatz

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