Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther
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Solch unglückliche Lagen hat es auch vor uns schon gegeben, und ich meine, wir könnten vielleicht aus der Geschichte lernen, zumal es sich bei dem Konflikt, an den ich hier erinnern will, um Traditionen handelt, zu denen sich dieser Verband im Statut, das hier zur Anklage der neun Kollegen herhalten muss, bekennt.
Im Frühjahr 1932 kulminierte die Kontroverse zwischen der bürgerlichdemokratischen und der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung, es war die Zeit vor der Reichspräsidentenwahl. Heinrich Mann setzte sich damals öffentlich für die Wiederwahl Hindenburgs ein, um, wie er meinte, den Damm gegen die faschistische Gefahr zu befestigen. Johannes R. Becher reagierte darauf in einem offenen Brief in der „Linkskurve“ mit dem Titel „Vom ‚Untertan‘ zum Untertan“, worin er Heinrich Mann bescheinigte, dass er unwiderruflich (!) zu seiner Gestalt zurückgekehrt sei. Becher nannte ihn Rahmabschöpfer und Schmarotzer, verstockter Anpasser und gar einen Agitator der faschistischen Volksgemeinschaft. Wir wissen, wie die Sache endete, und ich bringe diese Historie nicht, um Kongruenzen zu konstruieren, sondern um analoge Haltungen vorzuführen. 1933 übernahm Hitler die Zügel, Hindenburg reichte ihm das teutonische Steinbeil als Zepter, und Becher wie Mann trafen sich wenig später im Exil wieder. Klüger durch Schaden, nun deutlich sehend, dass sie Bündnispartner waren und sind, und so finden sie, spät, zu einer differenzierteren Sicht. Becher korrigiert in dem 1936 geschriebenen Essay „Aus der Welt des Gedichts“ die zugespitzte Polemik von 1932. Er schreibt: „Wo steht ein Dichter? Dort, wo er als Dichter steht: inmitten des Besten, was er geschaffen hat. Nicht unbedingt dort, wo er seine Unterschrift hinsetzt und sich politisch bekennt.“ Mir scheint, die Worte sind bedenkenswert.
Ich frage: Werden Ausbürgerung, Ausreisen, Ausschlüsse zu einem guten Ausgang führen? Werden damit nicht sogenannte Fälle nur für den Augenblick, also scheinbar, gelöst, zugleich aber ständig neue geschaffen? Und schmerzen nicht auch die amputierten Glieder? Führt das forcierte Kämpfen nicht auch zu späteren Krämpfen?
Lasst mich zum Schluss sagen, dass ich kein besseres krampflösendes Mittel weiß als die kontroverse und zugleich tolerante Diskussion des Strittigen, die Diskussion, wo sonst als hier in diesem Verband.
Ich denke, niemand erwartet von mir, dass ich, überzeugt, das Falsche zu tun, die Hand für die Ausschlüsse meiner Kollegen hebe.
DER LAUTLOSE KRIEG
1
Als der Krieg begann: Diesen Satzanfang wird es nach einem nächsten Krieg nicht geben. Noch möglich war und ist Erzählen nach dem, der vor fünfzig Jahren begann. Dem größten seiner Art, der bislang üblichen. Welt-Krieg genannt, doch nicht die ganze Welt erfassend. Menschen verschlingend, doch nicht die Gattung Mensch. Sechzig Millionen Opfer, und doch Millionen, die er überleben ließ und die von ihm erzählen können mit eben diesem Satzanfang: Als der Krieg begann. Sich erinnernd. Uns, die in ihm und später Geborenen, erinnernd.
Das war der alte Krieg. Der seit Jahrtausenden tausendfach geführte, der seine Potenz zu töten immens gesteigert hatte, doch unfähig blieb, alles Leben auszulöschen. Er begann damit, wie vordem auch, dass eine Landesgrenze überschritten wurde. Doch dieser alte und in Europa vorerst letzte der gewöhnlichen überschritt an seinem Ende noch eine Grenze. Die eigene. Der alte, müde und satt vom Würgen und Schlingen, bauchhöhlenschwanger von gesoffnem Blut, platzte auf und stieß aus der zu eng gewordenen Panzerhaut ein plumpes Eisenei. Die Stunde einer infernalen Niederkunft. Der Beginn eines neuen Zeitalters, des nuklearen. Es war die Missgeburt der Bombe, die, detonierend, heller strahlte als das Licht der Welt und Menschenschatten auf Ruinenwände brannte. Geburtsname: Little Boy. Geburtsdatum: 6.8.1945. Geburtsort: Hiroshima. Ein perfektes Monstrum war geboren, das sich spaltend weiterheckte und ungeheuer wucherte, eine Kopfgeburt instrumentellen Denkens, der Ethos und Vernunft entglitt und im kalten Klima demonstrierter Stärke mörderisch gedieh.
Der neue Krieg, der mögliche, stolz zeigte er die Instrumente und wuchs, mutierte immerfort und füllte seine Arsenale. Ein neuer Krieg, ein schlanker, spitz statt stumpf, nicht stiernackig wie der alte, der auf Masse setzte, Landmasse, Menschenmasse, Massenmord, der eisenklirrend über Länder feuerwalzte, steckenblieb und ohne Rücksicht auf Verluste um sich biss und schlug, bis ihm die Luft ausging, die ihm genommen wurde. Der alte war verheerend. Der neue, lässt er die Instrumente los, wird nicht mehr zu beschreiben sein. Der alte ließ noch einen Anfang zu. Der neue ist das Ende.
2
Allein ein Poseidon-U-Boot trägt 16 Raketen mit je 10 Sprengköpfen. Sie haben eine Sprengkraft von insgesamt 6,4 Megatonnen TNT. Das ist mehr als alle im Zweiten Weltkrieg verschossene Munition.
Die Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von 13,5 Kilotonnen TNT. Sie tötete 100.000 Menschen. Die gesamte Sprengkraft der heute weltweit vorhandenen Kernwaffen entspricht etwa 1 Million Hiroshima-Bomben. Das sind etwa 3 Tonnen TNT pro Kopf der Weltbevölkerung.
3
Ein Alb. Ein Traum, in ihm ein Zwilling, siamesisch, mit zwei Köpfen und einem gemeinsamen Unterleib, in Brusthöhe, herznah, verwachsen. Giovanni und Giacomo. Giovannigiacomo. Showfreak im Zirkus Welt. Oben die Bühne mit billigem Flitter, Diskolicht und poppiger Pappe. Unten die zahlenden Massen, wir. Die Show läuft nonstop. Nur mühsam hält der Zwilling die Balance auf seinen beiden Beinen, die voneinander wollen und nicht können. Die Stirnadern geschwollen. Vier Arme ringen, schlagen, wehren ab, wobei schwer auszumachen ist, welche Hand von welchem Schrei gesteuert wird. Sie umklammern einander, gehen sich an die Kehlen, zeigen sich die geschärften Hieb- und Stichgeräte, stoßen jedoch nicht zu. So stehen sie, schwankend, keuchend, belauern und bedrohen sich, schrecken ab durch Muskelspiel und können doch die Angst, die sie beherrscht, nicht verbergen. Blutsbrüder, zunehmend gelähmt in feindseliger Umklammerung. Gezeichnet von der Anstrengung, fortwährend zu drohen, den Argwohn ständig wachzuhalten und nicht zu wissen, wie der Tod des anderen den eigenen vermeiden könnte. Denn das wissen sie: Stirbt einer vor dem anderen, folgt der Sieger dem Besiegten bald schon nach. Ratloses Geschling, ein Blutkreislauf. Die Leute unten werden langsam ungehalten. Wollen was sehen für ihr Geld. Wollen sich amüsieren. Sie sind des aussichtslosen Schaukampfs müde, fordern Giovanni und Giacomo auf, vierhändig Klavier zu spielen und zweistimmig zu singen, Giovannigiacomo jedoch verharrt in seinem kämpferischen Starrkrampf, unfähig zur Bewegung. Labiles Gleichgewicht des Schreckens. Tickende Stille auf der Bühne. Nichts von Belang geschieht, der Traum tritt schmerzend auf der Stelle, unerträglich.
4
Das Erwachen ein globales Erschrecken: Der Suizid, zu dem die Menschheit fähig ist, kein Traum. Die Gefahr, zwar nicht gebannt, jedoch benannt: spät, die Hoffnung ist, noch nicht zu spät. Der neue Krieg, der täglich mögliche, ist, wenn er wirklich wird, weder zu gewinnen noch zu überleben. Das erkannt zu haben, ist viel. Ist es genug?
Was hat uns denn bislang vor dem bewahrt, was demnächst nicht abzuschaffen ist? Die gewachsene Vernunft, der zum Homo sapiens gereifte Homo faber? Die symmetrisch drohende Vernichtung, das Gleichgewicht der Waffen? Die nackte Angst vorm Untergang? Die massenhafte Friedenssehnsucht? Die Einsicht führender Köpfe? Das mit der Menschenmacht synchron gewachsene Gewissen?
Oder hat sich der aus dem alten Krieg gekrochene neue selbst daran gehindert auszubrechen? Hat er sich selbst gelähmt, indem er so monströs gerüstet ist, dass er sich im Ernstfall mit der ausgelöschten Menschheit selbst abschafft? Hat er sich wandeln müssen, um sich zu erhalten? Freuen wir uns zu früh, wenn der ausbleibende Countdown des atomaren Endes uns schon