Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Das Blöken der Wölfe - Joachim Walther

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sagte der Jüngere. Selbstverschuldete Unmündigkeit: Ich habe den Satz, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit bisher immer falsch gelesen. Unverschuldete Unmündigkeit, las ich, obwohl es anders schwarz auf weiß geschrieben stand. Unverschuldet unmündig, las ich und dachte an die wechselnden Herren Vormünder, die immer ein Interesse an der Ohnmacht des massenhaft Einzelnen hatten und sie aus ihrer Vogelperspektive auch so nennen: die Volksmassen, ein emsiges Gekrabbel am Boden. Unverschuldet unmündig – das nahm ich bis vor Kurzem auch für mich in Anspruch und suchte die Verantwortung außerhalb von mir, bei denen da oben, den Erdengöttern, Häuptern, Ernannten, Vertretern, den Befugten und Geheimnisträgern, und hatte einen Grund, nicht selber verantwortlich zu sein und nichts zu sagen und zu tun.

      Wir fuhren durch eine große, graue Stadt: dicke Luft, brennender Müll, brüllender Verkehr. Die Menschen hastend, mürrischen Gesichts, so mürrisch, dass man denken konnte, Leben sei ihnen Last, nicht Lust: Jäger und Sammler, hochzivilisiert.

      Inkompetenz, sagte der Ältere.

      Unwissen, sagte der Jüngere. Verantwortungsbewusstsein braucht Wissen. Und Wissen braucht Informationen: Daten, Vergleiche, Schadensbilanzen, der Blick aufs eigene Nahe so scharf wie der aufs fremde Ferne.

      Es ist Hoheitsaufgabe jedes Staats, sagte der Ältere und hob die Stimme ein klein wenig, mit seinen Zahlen so oder so umzugehen. Schließlich trägt er die Verantwortung fürs Ganze.

      Er allein? Und wer ist ER überhaupt, der Staat? Die Führung? Der Apparat? Die Bürger? fragte der Jüngere. Natur ist keine Domäne. Wir alle sind ihr Teil und also jeder einzeln auch verantwortlich. Verantwortlichkeit aber steigt mit dem Grad der Mündigkeit.

      Wenn hier und da diese oder jene Zahl zurückgehalten wird, sagte der Ältere, dann allein im Interesse der Menschen: um sie nicht zu beunruhigen und unnötige Ängste zu wecken. Um Zahlen zu verstehen und komplex einzuschätzen, braucht es Wissen, Überblick.

      Und beide brauchen Informationen, sagte der Jüngere. Da liegt der Hund, der sich in den Schwanz gebissen hat, begraben.

      Am Rande der Städte Fabriken. Ein Zementwerk: die Landschaft in weitem Umkreis gestäubt, gestorben. Bäume wie Totenmale aus Beton.

      Weitere Vervollkommnung des prinzipiell Bewährten, sagte der Ältere.

      Neues Denken, sagte der Jüngere.

      Dem Volk gefällte Entscheidungen geduldig erläutern.

      Daran beteiligen, sagte der Jüngere.

      Umerziehen, der Ältere.

      Informieren, sensibilisieren und eigene Schlüsse ziehen lassen.

      Laienhafter Eifer moralisierender Schöngeister, sagte der Ältere und lächelte. Übrigens ist die Ökologie auch eine Wissenschaft.

      Und Demokratie, sagte der Jüngere, eine Kunst.

      Ja, die Künstler! rief der Ältere. Heulen. Zähneklappern. Klagen mit der Lust am Untergang. Genießen der Wehmut, leicht morbid. Kassandrarufe.

      Eine Chemiefabrik: Man roch sie schon, bevor sie sich in ihren satten Farben zeigte. Der Ältere rümpfte die Nase und wies den Fahrer an, das Fenster dicht zu schließen.

      Ganz so, fuhr er fort, als wären Wissenschaftler ohne Ethos. Nicht mal jene, die für die Rüstung arbeiten, haben ein Interesse am Krieg.

      Pervers, sagte der Jüngere.

      Dialektik, sagte der Ältere. Zusammenhänge, Abhängigkeiten, Widersprüche, Zwänge, Notwendigkeiten. Das alles hält uns im Griff. Noch. Schwärmer werden das nicht erkennen, geschweige denn ändern, sondern nur exakte Wissenschaft.

      Darauf schwieg der Jüngere, mir schien, entnervt, und ich dachte, lieber sich selbst bessern wollen als die Götter, und weiter dachte ich, dass nicht Wissenschaft noch Kunst allein die Welt im Ganzen fassten. Aber die Kunst, mein lieber Lucilius, hat den unschätzbaren Vorteil, das Recht und die Pflicht, unorthodox, querdenkerisch, apodiktisch, radikal moralisch zu sein, da ihr Wesen weder zweckhaft war noch jemals sein wird.

      Ein Tagebau. Das gigantische Erdloch eine schrundige Wunde. Eisenungetüme fraßen Landschaft, schaufelten Felder, Wälder, ganze Dörfer, Bäche, Wiesen, Wege in sich hinein und schieden sie hinter sich wieder aus. Eine zerkleinerte, amorphe Masse, leblose Halden kilometerweit, die Folgelandschaft eine Steppe: ohne Gesicht, auch rekultiviert der Geschichte beraubt, exkrementiert.

      Wählen Sie, sagte der Ältere und zeigte freudlos nach draußen. Das hier. Oder das da vorne.

      Wir sahen Kühltürme in der Ferne und näherkommend ein Atomkraftwerk. Da roch nichts, da war kein Rauch zu sehen und kein Lärm zu hören. Blumenrabatten, sauber gefegte Wege, beschnittene Büsche, viel Grün ringsum, hell gestrichene Gebäude, Kühe, in der Nähe grasend, friedlich, das setz ich noch hinzu, ein Fluss, der still vorüberfloss. Ein freundlicher Eindruck, den nur der hohe Stacheldraht um die Idylle störte. So hoch, als lagere dahinter eine besonders gefährliche Waffe.

      Das die Alternativen, sagte der Ältere.

      Wenn Wissenschaft nicht mehr zu bieten hat, sagte der Jüngere und schwieg.

      Dörfer, kaum zu unterscheiden voneinander. Bauten aus Beton, genormt. Gasthäuser, die hießen: Wildschütz, Anglertreff, Jägereck.

      Apropos, sagte der Ältere. Ich habe Hunger.

      Ein weiteres Dorf, der Teich verschlammt, müllgesäumt. Storchennester, keine Störche.

      Hunger und Durst, sagte der Jüngere. Müssen muss ich auch.

      Na also, sagte der Ältere entspannt. Und Sie?

      Er meinte den Fahrer. Mich übersah er. Der Fahrer schüttelte den Kopf, griff ein Warmhaltegefäß und eine Brotbüchse und aß. Die beiden anderen entfernten sich, miteinander diskutierend.

      He, du, willste mal? fragte der Fahrer, als wir allein waren.

      Ich weiß nicht, sagte ich und wusste, dass ich wollte.

      Wir wechselten die Plätze. Er zeigte mir, wo ich zu lenken, bremsen, kuppeln und Gas zu geben hatte, und los ging’s. Tatsächlich wie von selbst bewegte sich das Ding und mich, der ich nicht mehr tat, als mit dem Fuß auf ein Pedal zu tippen. Minimale Muskeltätigkeit, die Kräfte freisetzte, die meine eigenen weit überstiegen. Und ich der Herr darüber. Ich fuhr schneller, drückte das Pedal bis zum Anschlag durch und meinte bald zu fliegen. Rausch der Geschwindigkeit. Ich nahm die Straße vor mir wahr, seitlich jedoch verwischte, verhuschte alles, zog sich seltsam in die Breite, ein Bildbrei unkenntlicher Details. Es machte Spaß, Lucilius, und wie!

      Ich habe überlegt, ob ich Dir meine Verführung verschweigen sollte. Doch was nutzte das? Handelst du schändlich, was macht es dann noch aus, wenns keiner weiß? Du selber weißt es ja. Diesen Mitwisser zu verachten, das eigentlich bedeutet, elend zu sein.

      Mir war, als wäre ich gewachsen. Hätte mich vervielfältigt. Ein Riese nun, Gigant. Ein Gott. Allmächtig. Insekten schlugen auf die Scheibe vorn. Schmetterlinge wurden in den Motorraum gesogen, ein Vogel prallte auf, und dann die Katze: plötzlich vor mir auf der Straße. Und ich fuhr direkt auf sie zu, der Fahrer riet (mit vollem Mund), auf keinen Fall zu bremsen oder auszuweichen. Draufhalten! schrie er, sich verschluckend, voll drauf! Die Katze mir voraus,

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