Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Das Blöken der Wölfe - Joachim Walther

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ich wirklich möchte, zumal ich eben mit Schaudern las, wie mächtig der Krake war, wie vielarmig, skrupellos und hinterhältig. So las man nach seinem Ende in den Medien die Geheime Verschlusssache Richtlinien über die Zersetzung oppositioneller Gruppen und Personen und unter dem Punkt Zersetzungsmaßnahmen dies: Systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter und nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben, dazu das Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen sowie die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw., kompromittierender Fotos, zum Beispiel von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen und schließlich die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen, und am Schluss dieses widerlichen DDR-Dokuments aus dem Jahre 1976 steht, dass diese Mittel schöpferisch und differenziert anzuwenden, auszubauen und weiterzuentwickeln seien. Schöpferisch, dies wörtlich.

      So war das, und es war nicht bloße Theorie. Da haben wir gelebt, der eine so, der andere ein wenig anders, doch alle unter dieser Fuchtel. Die uns krümmte, die Täter wie die Opfer. Die uns die klare Sicht nahm in einem alles durchdringenden gesellschaftlichen Nebel. In dem die Konturen von Täter und Opfer verschwammen. In dem Schweigen und Dulden, Wegsehen und Weghören, ein bequemes, wenn auch lustloses Einverständnis das System erhielt, bis ihm dieses massenhafte Einverstandensein entzogen wurde und es zur Verwunderung aller sang- und klanglos in sich zusammensank, so als habe jemand das Ventil eines aufblasbaren Gummitieres geöffnet. Leben in einem Klima, in dem die bewusst verbreitete Unsicherheit der Staatssicherheit ein Instrument der Herrschaft war und der Spruch Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser eines der zentralen, zynischen Ideologeme. In dem das geschürte Misstrauen eines jeden gegen jeden Staatsdoktrin war – und eine Krankheit in uns allen, chronisch, da unbehandelt, ständig zum Ausbruch bereit, da die Erreger in der Luft zum Atmen schwebten, mit Blicken, Gesten, Händedruck, ja Kuss übertragen wurden, in die Köpfe stiegen und die Herzen versteinten, ein schleichendes, atmosphärisches Gift, eine landesweite Luftverschmutzung, poststalinistischer Smog, der flächendeckend über allem lag.

      Nun hat sie mich wieder, die Vergangenheit, von der ich weiß, dass ich ihr, selbst wenn ich wollte, nicht entkomme, auch hier nicht in Amerika. Nur ein paar Tage Ruhe wollte ich in diesem Land, an dessen Brücken die gesprayten Graffiti keine politischen Parolen zeigen, sondern nicht selten dies: Trust Jesus. So einfach könnte alles sein. Ein Vergessen und ein neuer Glaube, was gegenwärtig viele meiner Landsleute praktizieren, die das höchst Unangenehme, sich selbst zu befragen, vermeiden wollen – und mit eben dieser bewährten Art kollektiven Verdrängens nicht vermeiden werden, die Übel der Vergangenheit in die Zukunft zu transplantieren. Sie meinen, sie wären geheilt, und sind doch nur schmerzfrei, weil betäubt. So einfach könnte das sein auf dem Campus von Middlebury in Vermont, diesem grünem Hügel der Seligen, der gepflegt und rein und reich ein geschützter Ort ist für alle, die hier lernen, lehren, ein Ort von einer Sauberkeit, die fast klinisch ist, bewohnt von reinlichen, freundlichen, hochintelligenten und hochmotivierten Studenten, die in den Pausen über die grünen Wiesen eher wandeln als gehen und dabei französisch, spanisch, russisch, deutsch, chinesisch, italienisch, japanisch plaudern, die nicht schreien, pöbeln, rempeln, streiten, die auch von Erotik nichts spüren lassen, fast geschlechtslos und unisex in ihren Knieshorts, T-Shirts und Reebok-Turnschuhen, engelgleich, Mädchen wie Jungen, in Reinheit schweben, vergeistigt nahezu, dabei nicht etwa blässlich oder streberisch verklemmt, von einer selbstauferlegten Disziplin des Lernens, mit einer nicht erzwungenen Akzeptanz der Regeln, sieben Wochen ausschließlich die gewählte Fremdsprache zu sprechen, weder Zeitung zu lesen noch Radio zu hören oder fernzusehen. Sie sind von einer nahezu klösterlichen Sanftmütigkeit, die angenehm ist und doch etwas vermissen lässt – vielleicht die Rebellion der Jugend. Für alles ist gesorgt, für Essen, Telefon, Computer, Freizeit, aus einem Fenster perlt Vivaldi, einer skandiert im Gehen Klopstocks „Frühlingsfeier“, am Abend hat Büchners „Woyzeck“ Premiere, und übern Campus fährt im Schritttempo die unbewaffnete, freundlich grüßende College-Security, und man tritt auf die Straße in Gedanken und kann darauf vertrauen, dass alle Autos halten, ohne Hupen und Bremsenquietschen und ohne dass jemand wütend brüllt. Ein abgehobener Ort, eine wolkig weiche Enklave des Lernens, ein friedliches Biotop, dem man sich anvertrauen kann, eine unaufdringliche, weitläufige Obhut, die nicht die Geborgenheit des Käfigs ist, nicht die des Stalls, in dessen Enge und Dunst ich bis vor Kurzem lebte.

      Und eben hier überkommen mich die Erinnerungen an das sich selbstauflösende Land, in dem ich aufwuchs. Aufwuchs wie jedes Kind: von der Natur bestimmt, darauf zu vertrauen, beschützt, genährt, geliebt zu werden. Das Privileg des Menschen. Der nicht wie sonst die Kreatur im Augenblick des Schlüpfens sogleich um sein Leben fürchten muss. Wir dürfen glauben, und weil wir es dürfen, glauben wir, es müsste so sein und zeitlebens so bleiben. Die Mutter: die Wärmende, Nährende, Bergende. Der Vater: der festere, doch zärtliche Griff, das Spiel, die Stimme der Warnung und des Verbots. Alle anderen Menschen Brüder, Schwestern, die Welt ein Freund: kindliches Vertrauen. Die erste Welt. Welt ohne Argwohn. Urvertrauen. Der schöne Glauben, alles geschähe zum eigenen Besten und alle wollten das Beste in der denkbar besten aller Welten. Nestwärme. Umhegte Kindheit, die das begrenzte Gehege nicht wahrnahm. Die die Wärme und Überschaubarkeit des heimischen Stalles schätzte, da er schützte vor dem unbekannten Draußen, wo der Wind ging und das Fremde weste, die Gefahr, das Böse. Hier das Gute, dort das Böse: der fein übersichtliche Dualismus, mit dem sich seit Menschengedenken so trefflich herrschen lässt. Das Teile-und-Herrsche setzt allerdings voraus: Lass dich teilen, werde beherrschbar.

      Wann wurde das kindliche Vertrauen das erste Mal erschüttert? Beim ersten neugierigen Blick aus der Tür, beim ersten zagen Schritt vor diese, als wir im Rücken spürten, etwas Unerwünschtes zu tun, und später dann, im Wiederholungsfall, bestraft wurden mit zeitweisem Liebesentzug? Als wir dunkel ahnten, dass Behütetsein auch Beschränkung bedeutete, die Nähe auch Enge, Bindung auch Fessel, dass die begrenzte, feste Ordnung den Freiraum einschränkte und als Eingesperrtsein empfunden wurde? Und dann die Worte: Glaub mir, vertrau mir, da draußen ist nichts von Belang, da draußen ist Gefahr, der Feind, das Böse, das darfst, das sollst, das musst du glauben, du musst uns nur ganz fest vertrauen, dann geht’s dir allzeit gut. So sprachen die frühen und früheren Autoritäten: Eltern, Erwachsene, der Übervater Staat. Du musst: das Empfehlen, dies die Lektion, war Befehl, dessen Nichtbefolgen geahndet wurde. Die Welt des kindlichen Vertrauens bekam Risse, Sprünge, brach entzwei. Ein schmerzlicher Verlust, der zeitlebens die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies wachhielt, den Wunsch zu retardieren weckte, zurückzukehren in die widerspruchsfreie, warme Welt voll Harmonie, die uns einst barg wie eine Höhle: am besten zurück in den Leib der Mutter.

      Doch es kam noch schlimmer. Unser Vertrauen wurde nicht nur enttäuscht, es wurde auch missbraucht, um uns zu täuschen, zu belügen, in Abhängigkeit zu halten und uns einzureden, der Verzicht sei in Wahrheit ein Gewinn. Das machte zweifeln, trotzig, zornig, das ließ uns manchmal aufbegehren, bis man uns die Zähne oder die Instrumente zeigte. Doch daneben blieb die schöne Erinnerung an die süße Bequemlichkeit, sich freiwillig in die Obhut eines anderen zu begeben, sich fallenzulassen in eine Sicherheit, die wir nicht selber herzustellen brauchten. Wider die Einsicht weiter zu glauben, konnte nun nicht mehr unschuldig sein. Das Kindliche wurde das Infantile. Oder berechnend, wobei das Erfahrene verdrängt werden musste aus Furcht, verlassen zu sein, indem man sich auf niemanden und nichts mehr verließ.

      Glauben, vertrauen wollen wider besseres Wissen: Das zwanghafte Aufrechterhalten einer Illusion, das Entschuldigen gegenwärtiger Praxis mit dem alles und alle versöhnenden Ziel, das Heben des Blicks zum Horizont hin, dem wir uns zu nähern meinten und der doch fern blieb, ja, sich gar entfernte, das Heben des Blicks, um den Schmutz auf dem Weg nicht wahrzunehmen, wobei man, hoppla, schon mal über etwas stolperte, doch mit einem Scherzlied auf der Stelle weiterschritt, eine makabre Melodie mit dem inquisitorischen Refrain, der heilige Endzweck rechtfertige die wenig menschenfreundlichen, doch offenbar unvermeidlichen Mittel. Der freiwillige Verzicht auf den Widerspruch, die Skepsis, die Distanz. So werden Anachronismen über die Zeiten gerettet. Die Bequemlichkeit des Vertrauens als Stütze der Gesellschaft.

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