Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther
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So brach’s aus ihm heraus, und ich wusste ihm nicht viel zu sagen. Dass er jederzeit zu mir kommen könne, wenn er mich brauche. Dass er versuchen solle, ihr trotz allem zu vertrauen, um ihr die Möglichkeit zu lassen zurückzufinden. Er aber winkte ab, es sei zu spät, einer von beiden müsse aus der Welt, und alles spräche dafür, dass er es sei. Drei Tage später war sie tot. Ertrunken in der Ostsee, wo sie mit dem anderen war, sie schwamm hinaus, immer weiter, der andere rief, sie hörte nicht, der andere kam zu spät. Jens überlebte ihren Tod. Doch wie.
Nach einem Jahr noch ist es, als wäre alle Farbe aus ihm gewichen, er ist ein Schatten seiner selbst, eine Skala von Grautönen, die von Selbstanklage bis Misanthropie reicht und tief getönt ist von Misstrauen, Bindungsangst und einem generellen Schutzsyndrom, das alles abwehrt, was an seine offene Wunde rühren könnte. Er ist der ständig Misstrauische, der nichts lieber möchte, als wieder zu vertrauen, doch so tief verletzt ist, dass er fürchtet, was er sehnlichst wünscht. Aber davon spricht er nicht. Er spricht von illusionslosem Realismus, von Autonomie und von der Unmöglichkeit der Liebe. Es ist eine der stillen Tragödien, deren Inhalt auch Vertrauen ist. Er will nicht hören, dass seine Eifersucht ihre Untreue auch provoziert haben könnte, dass Barbara sein Misstrauen lediglich rechtfertigte, da er ihr keinen Grund mehr gab, gut zu sein. Er will nicht sehen, wie sein in sie gesetztes Vertrauen eine solch hohe und hehre Erwartung an den Himmel der Liebe projizierte, dass sie sich unter Druck gesetzt und davon überfordert fühlen musste, so dass sie sich dieser moralischen Nötigung durch Flucht entzog. Er aber verschließt die Trauer wie die Schuld und ist nach außen hin der neue Typ: der Single, der allein zurechtkommt, sich selbst genug ist, der die Frustration vorwegnimmt, um sie später zu vermeiden, der nichts verlieren kann, weil er nichts gibt, was er nicht auch zurückerhält.
Und darin gleicht er Laura, der Studentin, die im „Woyzeck“ die Marie spielte. Laura ist Mitte Zwanzig, hat schon eine Ehe hinter sich, und ich sah sie auf dem Campus ausschließlich in Hosen und mit Rucksack, nie mit Rock, und nur im Stück mit einem Kleid, sie läuft Marathon, trainiert täglich nur für sich, ohne die grellen und eigens dafür hergestellten Accessoires der Freizeitindustrie, läuft für sich und lebt für sich, in Boston. Vertrauen zu einem Mann? fragt sie zurück, als ich sie danach frage. Wozu? fragt sie und sagt: Ich bring mich nicht in diese Lage, einem Mann vertrauen zu müssen, und umgekehrt verlang ich auch von keinem Mann, mir zu vertrauen. Ich wäre, er wäre überfordert. Ich bleibe in jeder Phase selbstständig, und wenn ich mit einem Mann etwas Gemeinsames tue, dann weil ich es will, nicht, weil ich muss. Ich bin und bleibe unabhängig. Wieso sollte ich fürchten, ausgenutzt und betrogen zu werden? Wenn ich mit einem Mann schlafe, dann weil er mir gefällt, weil ich es will, und also muss ich ihm nicht vertrauen, da er mir nichts nehmen kann, was ich ihm nicht gebe. Außerdem nehm ich genau so viel von ihm. Das ist unverpflichtete Liebe, ein Vertrag für eine Nacht, der am Morgen seine Gültigkeit verliert und keinen von beiden zu mehr verpflichtet, und sollte es eine zweite Nacht geben, dann mit neuem Vertrag zu gleichen Bedingungen. Vertrauen ist für mich Schwäche: Ich gebe mich auf, ich gebe vor allem meinen Geist auf und fange an zu glauben und muss mich nun auf jemanden verlassen und bin irgendwann wirklich verlassen.
So Laura, die moderne Marie des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Und wie ich so reden hörte, kam ich mir vor wie der alte Woyzeck. Versetzt in unsere Gegenwart, ohne angekommen zu sein, ein Schwebezustand, die Flugphase eines Sprungs: abgesprungen, doch nicht aufgekommen, fort von und hin zu etwas, doch mitten in der Luft. Und so ließ ich es sein, Vertrauen eine Tugend zu nennen und Misstrauen eine Schwäche. Es schien mir noch immer nicht grundsätzlich falsch, doch völlig unpassend, dies Laura zu sagen. So als tauchte ein Naosaurus aus dem Perm unter den ersten Vögeln im Jura auf. Wir, Woyzeck, als lebende Fossilien im Holozän. Wie sagtest du zum Hauptmann? Es muss was Schön’s sein um die Tugend, Herr Hauptmann, aber ich bin ein armer Kerl. Ja, Woyzeck, das bist du. Und vielleicht sind wir das alle.
Noch ehe ich das Gefühl haben könnte, etwas Praktikables, Griffiges gefunden zu haben, ist die Zeit von Middlebury abgelaufen. Abschied von Jane und Bruce und Laura. Der College-Berg, die grünen Berge von Vermont bleiben hinter mir: Burlington, Boston und New York.