Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther
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Künste sind nicht bloße Schmuckelemente des Staats. Die Literatur, nur zum Beispiel, ist die Seele der Nationalsprache. Der Staat hat die Pflicht, die Künste zu erhalten, und ergo auch die Künstler, die noch lebenden, versteht sich.
Man hört es von dem neuen Oben unten raunen, die Künstler sollten sich eine Arbeit suchen, als ob ein Bild zu malen, ein Buch zu schreiben, eine Partitur zu setzen keine Arbeit wäre. Und wir, die Künstler, hellhörig aus Erfahrung, hören da schon wieder leise die Töne der Kunstfeindlichkeit.
Übertreibungen? Hier die Fakten: Ab 1. Juli 1990 haben die freiberuflichen Künstler in der Noch-DDR, da sie sinnigerweise steuerrechtlich zugleich als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten, summa summarum 51,2 Prozent Steuern zu zahlen. Gleichzeitig werden deren Konten halbiert, obwohl die doch nichts anderes als bereits bezahlter Lohn sind. Gleichbehandlung ist gefordert, kein neues Privilegium. Dazu kommt die Halbierung der noch zu zahlenden Raten aus bestehenden Verträgen. Ihre Arbeitsräume werden als Gewerberäume miet-bemessen. Die Arbeitsämter lehnen es ab, sie bei Arbeitslosigkeit zu vermitteln. Dies alles kommt bedrohlich auf sie zu, indes die Verlage ums nackte Überleben ringen, Verträge zurückgeben, Auflagenhöhen minimieren und Programme reduzieren. Und auch die Künstlerverbände als berufsständische Interessenvertreter wissen nicht, wie sie nach der Währungsunion ohne Geld fortbestehen sollen.
So ist die Lage. Und sie ist bedrohlich. Es ist hohe Zeit, Alarm zu schlagen und den Staat dringlich an seine Kulturpflicht zu erinnern.
Ja, ganz recht: Wir sind ein Volk. Aber sind und bleiben wir auch ein Kultur-Volk?
Zuerst veröffentlicht: Sonntag, 8. Juli 1990
WOYZECK IN AMERIKA
Schon auf dem Flug übern Atlantik wird mir die erste Probe abverlangt: Ich habe keine andre Wahl, ich muss vertrauen, ohne zu wissen, ohne zu sehen, ohne mich vergewissern zu können. PANAM-Flug Frankfurt – New York. Das Lächeln der Stewardess, das beruhigen, ermuntern und Sicherheit verströmen soll, ist, weiß ich, angelernt, gilt mir und völlig unverändert allen anderen auch. Standardisierte Zuwendung, die enttäuscht. Vertrauen müssen: die Kopulation der beiden Wörter eine sprachliche Notzucht. Also beschließt der Passagier, vertrauen zu wollen. Doch weiß er, ob der Captain vorn im Cockpit eine erfreuliche oder miserable Nacht hatte in Germany? Ob er den Abend zuvor getrunken hat, vielleicht aus Frustration, verletzter Männlichkeit, im Hotel an der Tür abgewiesen von einer Stewardess? Vielleicht aus Ärger, der zu Hause drohend auf ihn wartet? Oder ist er krank, lebensmüde, übersieht er etwas auf den Armaturen, ignoriert er tollkühn irgendeine Warnung? Die schwarzen Phantasien galoppieren. Weiß der Fluggast, weiß ich, wann die Boeing das letzte Mal gewartet wurde, ob die strapazierte Außenhaut nicht bereits spröde ist, womöglich schon feine Haarrisse hat, die sich im Lauf des Fluges weiten, bis …? Weiß ich, ob die tausend Schrauben, Nieten, Rohre, Kabel intakt sind und an Ort und Stelle? Oder ob im Packraum in einem der aufgegebenen Koffer eine Bombe tickt? Ob unter den arabischen Passagieren ein fanatischer Fundamentalist ist, der mitten im Flug aufsteht, nach vorne geht und die Boeing, dieses verwundbare Inkarnat der Ungläubigen, als Geisel nimmt samt mir zum Ruhme seines Gottes und zu seinem eigenen Ruhm im Heiligen Krieg? Oder ob, viel simpler, jemand seiner Verdauung wegen auf der Toilette raucht, die noch glimmende Zigarette achtlos zum Knüllpapier wirft, und es zum Schwelen und Brennen, zu Knall und Fall kommt mitten über dem Atlantik? Nichts davon kann wirklich ausgeschlossen werden, und eben deshalb heißt es vertrauen. Um mich die Gesten und Gesichter zeigen je nach Temperament Flugroutine, Gleichgültigkeit, gespielte Ruhe, ablenkende Geschäftigkeit: Der rudimentär noch vorhandene Herdeninstinkt signalisiert mir Abwesenheit direkter Gefahr. Und doch bleibt ein Unbehagen, ein misstrauisches Wittern, ein ungezielter Argwohn in dem gleichmäßigen Dröhnen und Rauschen. Die Technik schnellt uns quer durch den Himmel über den Ozean, und je mehr Technik unser eher bescheidenes physisches Vermögen potenziert, je mehr künstliche Geschwindigkeit unser natürlich beschränktes Leben beschleunigt, desto weniger vermögen wir zu durchschauen, was wir benutzen, desto mehr müssen wir uns Verborgenem anvertrauen, da wir’s nicht wittern, prüfen, kontrollieren können. Wie wenn die Natur aus ist, sagt Woyzeck, dem ich in Amerika wieder begegnen werde, Woyzeck, der in seiner anonymen Angst über die Bühne hetzt und sie zu fassen, sie zu beschreiben sucht: Wenn die Natur aus ist, das ist, wenn die Natur aus ist. Wenn die Welt so finster wird, dass man mit den Händen an ihr herumtappen muss, dass man meint, sie verrinnt wie Spinneweb. Das ist so, wenn etwas ist und doch nicht ist, wenn alles dunkel ist und nur noch ein roter Schein im Westen, wie von einer Esse …
Und dann erlösend der amerikanische Zauberberg: das College auf dem Hügel unterm blauen Himmel von Vermont. Staat der grünen Berge, der klaren Seen, der reinen Luft und der wilden Wasserfälle. Ein Ort, so dachte ich, gekommen aus dem einen deutschen Staat, der sich eben jetzt für immer aus der Weltgeschichte verabschiedet, ein idealer Ort, um Verletzungen zu heilen, deren eine missbrauchtes Vertrauen ist. Ein geschützter Ort, fernab der heimatlichen Wirren, um ruhig und möglichst ganz abstrakt darüber zu meditieren, was das war, was es ist und künftig sein könnte: Vertrauen. Zu fragen, ob wir überhaupt irgendeiner Sache außer uns gewiss sein können? Was heißt hier: außer uns? Sind wir unser selbst denn sicher? Und zu ahnen, dass diese Unsicherheit offenbar sehr nahe dem Vertrauen siedelt. Ein funzeliges, blakendes Licht, das mir da unversehens aufgegangen ist, das aber, fürchte ich, mehr Schatten wirft, als dass es wen oder was erleuchtet.
Der Zufall, der notwendige, will’s, dass ich auf dem Campus unter den neuen Kollegen eine alte Bekannte treffe: ein Stück DDR selbst hier, unsere gelebte Geschichte, der wir nicht entkommen, selbst auf dem fernen, abgehobenen magic mountain nicht. Ich erinnere, sie verließ das Land vor Jahren, weil ihr nachgestellt worden war von jenem monströsen Kraken, der seine schmierigen Tentakel in jeden Winkel des Landes bohrte, bis in die Schlafzimmer hinein. Noch als sie dieses Land bewohnte, erzählte sie, ihre Post würde geöffnet, ihr Telefon abgehört, in den Wänden steckten Wanzen, Manuskripte verschwänden, sie würde physisch bedroht und gar überfallen und geschlagen, und sie würde, dies das Übelste und letzter Auslöser ihrer Flucht, als Frau verleumdet, sich mit hochrangigen Polit-Potentaten eingelassen zu haben: Bettgeschichten der undelikaten Art. Und sie erzählte es laut, sehr laut, so laut, dass es auch die hörten, denen sie es nicht erzählte. Denen, die sie näher kannte, erklärte sie, sie sei, naiv und gläubig aufgewachsen in einer staatstreuen und staatstragenden Funktionärsfamilie in südlicher Provinz, noch als Schülerin geworben worden von ebenjenem Kraken, den sie aber damals für eine Art Gralsritter mit Tarnkappe hielt, eine märchenhafte Lichtgestalt in geheimnisvollem Dunkel, gestreng zwar, doch gerecht, sorgend für Ruhe und Ordnung, Frieden und Sicherheit, und sie habe ein Papier unterschrieben. Jahre später, nun Studentin schon, habe man sich auf ihre Unterschrift berufen und gefordert, sie solle nun ihre frühere Zusage einlösen und als Inoffizielle Mitarbeiterin fungieren. Man lockte mit Geld und anderen meist raren Dingen, stellte ein beschleunigtes Avancieren in Aussicht, und drohte, falls sie sich etwa weigern wolle, sie könne dann nichts werden, absolut nichts. Sie aber habe Nein gesagt, definitiv: Nein. Das erzählte sie, und man bedachte wohl, dass in solchem Falle, wenn überhaupt etwas, einzig hemmungslose Geschwätzigkeit vor den verdeckt arbeitenden Herren schützen kann, erinnerte sich aber auch, wie sie als junges Talent im Übermaß gefördert worden war und wie sie willig, ja enthusiastisch Texte vorgetragen hatte, die das Bestehende hymnisch priesen. Nach jenem Nein nun hätten die Repressalien gegen sie begonnen, und zwar mit einer perfiden Doppelstrategie, indem man parallel dazu das Gerücht in Umlauf setzte, sie litte unter Verfolgungswahn, weshalb die Nachstellungen und Überfälle einzig ihrer verwirrten Psyche entsprungen seien. Und dann schwollen die Gerüchte vielstimmig an, sie habe mit diesem und jenem …, sei eine Polit-Mätresse gehobener Kader, detaillierte Schweinereien. Dagegen habe sie nichts machen können, wie jeder gegen Rufmord machtlos sei, und habe das