Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther
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Verte! dachte, rief ich und fürchtete zugleich, rückwärtsgewandt geschimpft zu werden.
Kehre um? fragte der Ältere: Wohin? Zurück?
Die Wertewende in die Zukunft, sagte der Jüngere. Ohne Wertewandel ist Fortschritt tödlich, Umweltschutz Kosmetik, die das ursächliche Übel überschminkt, das unterm Make-up unbehandelt weiterwächst.
Wertewandel. Sagte er’s, dachte ich’s? Der Jüngere war’s, mir weit voraus und doch nicht fern. Das anthropozentrische sei durch das ökologische Weltbild zu ersetzen: ein Vorgang, vergleichbar mit der Ablösung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltbild. Die Physik, spätestens desavouiert seit der Atombombe, könne nicht länger Leitwissenschaft sein. Die Ökologie müsse integraler Teil allen Denkens, Planens und Handelns werden. Nötig sei eine neue Ethik für Naturwissenschaft und Technik. Nötig, das Verhältnis des Menschen zur Natur grundsätzlich neu zu formulieren. Fort mit der Hybris, dem Herrschen, Unterdrücken, Ausbeuten und Foltern (Bacon, Vater der Wissenschaft genannt, habe aufgefordert, die Natur auf die Folter zu spannen, um ihr so die Geheimnisse zu entreißen). Hin zur Sanftheit, zum Lauschen, Betrachten und Bescheiden (bei der Photosynthese der Pflanzen würden 40 Prozent der Sonnenenergie genutzt: ein Wert, von dem der umso vieles klügere Mensch nur träumen könne). Umweltverträgliche Produktion. Sanfte Energien. Planetare Solidarität. Alternativkonzepte. Neue Werte: ein alter Baum sei notwendiger und schöner als ein neues Möbel, eine feuchte Wiese nützlicher als ein paar Zentner Fleisch, ein lebendes Nashorn wichtiger für den Fortbestand der Gattung Mensch als die aus seinen Hörnern gewonnenen Potenzplacebos. Alle Güter und Lebewesen seien gleich zu achten, sie hätten den gleichen Wert, der Mensch sei nicht das Maß der Dinge.
Ganz recht: Als Verwandte hat uns die Natur geschaffen, aus den gleichen Stoffen und zur gleichen Bestimmung, und es gibt kein Gut ohne sittlichen Rang, und dieser ist überall der Gleiche. Ich fühlte mich verstanden. Reichlich spät, das gab ich zu, Lucilius, doch immerhin.
In die Schwärze uns voraus dehnte sich ein Streifen Licht, weit hinten. Der Morgen, mir graute. Schälte Formen aus der Nacht: Bäume, Hügel, Häuser. Wir aber rasten unvermindert schnell zum Horizont, der sich entfernte. Morgen-Grauen: Wohin geht die Fahrt? Der Fahrer fuhr, sagte nichts, das hatte ich wohl schon geschrieben. Der Ältere aber schien ein Ziel, weit vorn im Morgendunst, zu kennen: Womöglich war’s der Horizont, den er zu erreichen suchte.
Unbeirrbar, hörte ich ihn murmeln, vorwärts.
Er hatte hier das Sagen, schien mir, der Jüngere die Worte. Der Mensch, so ließ er sich schon wieder hören, sei zerstörerisch: Er habe das Maß verloren und kompensiere den Verlust nun durch die Gier, sich alles einverleiben zu wollen. Unersättlich, um die bleibende Leere zu füllen. Die verlorene Mitte treibe ihn, sich zu zerstreuen. Die einen häuften Dinge, andre Geld, wieder andre fräßen, söffen aus Verzweiflung, flüchteten in Süchte, irrten manisch durch die Welt, besichtigten das Ferne, um sich selbst nicht nah zu kommen. Alleinsein sei für sie bedrückend, Stille nicht auszuhalten. Dagegen gäbe es die Unterhaltungsindustrie. Billigkultur, minderwertige, synthetisch hergestellte Massenware globalen Verschnitts, die sättige und nicht nähre, die ruhigstelle und nicht beruhige, die Leben imitiere und nicht belebe, die Zeit nicht nutze, sondern vertreibe. Es sei, als spiele sie so laut und lustig, um das Röcheln der Natur zu übertönen.
Der einmal eingeschlagene Weg, murmelte der Ältere.
Der Mensch, setzte der Jüngere seine Rede fort, werde wohl auf Überflüssiges verzichten müssen: Er, Nutznießer und Opfer seiner erstaunlichen wie erschreckenden Produktivität, sähe sich immer weniger imstande, den Selbstlauf der Prozesse zu steuern. Technologie gehe ihm vor Ethik. Instrumentelles Denken vor Moral. Gegenwart vor Zukunft. Wissenschaft vor Gewissen. Was er vorantreibe, erlebe er als Fatum, vor dessen Folgen er die Augen schlösse, zumindest eins.
Im Vorwärtsschreiten Unvollkommenheiten überwinden, sagte der Ältere. Mit weniger mehr produzieren.
Der Mensch als der Treibende, der immer mehr wolle, mehr Dinge, mehr Bequemlichkeit, mehr Unterhaltung. Wissenschaftsfasziniert, fortschrittsgläubig, wachstumsbesessen und nicht bereit, die naturverheerende Entwicklung durch eigenen Verzicht zu stoppen.
Wo und was soll wann und wem gestrichen werden? fragte der Ältere. Und wer soll das entscheiden, wer das vorschreiben und durchsetzen?
Fast hätte ich gesagt: Vorschriften zu geben, wird demnach gar nichts fruchten, wenn du nicht vorher alles diesen Vorschriften Entgegenstehende beseitigt hast. Doch ich schwieg und konnte es, da der Jüngere sagte: freiwilliger Verzicht, nicht verordnete Askese. Die Einsicht, dass es wichtigere Güter gibt als die käuflichen. Wasser. Oder Luft.
Wasser und Luft, sagte der Ältere, konsumiert der Mensch wie andre Lebensmittel auch. Und er entnimmt sie der Natur. Das hat er getan, seit es ihn gibt. Und daran wird sich auch nichts ändern.
Entnehmen klingt so mild, sagte der Jüngere. Ausrauben muss das heißen. Die Natur verarmt, der Mensch bereichert sich auf ihre Kosten. Und Reichtum wird gleichgesetzt mit dem Mehren materieller Güter. Unbegrenztes Wachstum innerhalb naturgegebener Grenzen: das ist der Punkt. Verzicht auf das, was machbar ist, wäre wahre Stärke, Verzicht auf Macht, echte Größe. So aber entwickelt er die Produktivkräfte immer fort und benutzt Natur als Billiglieferant von Rohstoffen, Energie, Land und Lagerplatz für Abfälle. Die Umwelt wird so Unwelt werden.
Links und rechts der Straße Bäume, Wald. Ein schütteres Gebilde: verkahlte Kronen, gilbende Blätter, skelettiertes Geäst.
Wissenschaft und Technik, sagte der Ältere, stellen lediglich Wissen und Mittel für Zwecke bereit. Die Zwecke jedoch werden nicht von ihnen, sondern von der Politik gesetzt, letztendlich aber von der herrschenden Kultur.
Das delegierte Gewissen, sagte der Jüngere.
Du, Lucilius, weißt es so wie ich: Das ist ein Unding. Gewissen meint den inneren Mitwisser, den Zeugen jeder schlechten Tat in jedem Einzelnen von uns. Den kann man keinem andern einfach übergeben. Und selbst wenn man’s versuchte, wird kein Politiker, kein Wissenschaftler die Gesamtverantwortung übernehmen. Siehe Caligula, Nero und weitere Sehenswürdige im Potentaten-Panoptikum der Weltgeschichte. Und täte einer diesen rhetorischen Kraftakt, es bliebe Imponiergehabe, schöne Floskel, ebenso viel wert wie die Versicherung des Älteren, die Verantwortung für die überhöhte Geschwindigkeit zu tragen. Er saß hinten, weit weg von Bremse, Gaspedal und Lenkrad, und hatte keine Möglichkeit, irgendetwas zu tun, rechtzeitig zu reagieren im Falle der Gefahr, er hatte nur die Macht, dem Fahrer Richtung und Geschwindigkeit anzuweisen. Tatsächlich trug der Fahrer die Verantwortung, denn nur er war wirklich in der Lage, etwas zu tun. Der aber fuhr, wie ihm geheißen war, schweigend, mit dem Gleichmut der Gewöhnung im Gesicht, das weder Zustimmung noch Ablehnung verriet. Zeige mir den, der kein Sklave ist: der Begierde, des Geizes, der Geltungssucht, des Machtstrebens, der Hoffnung, der Furcht, der Gleichgültigkeit.
Felder beidseits nun. Soweit das Auge reichte, Monokulturen. Kein Weg, kein Baum, Bäche betoniert, begradigt. Ungeziefer zu Lande und zu Luft bekämpft mit tödlichen Dosen, die anderen Kräuter, das Getier, nützlich auch den Menschen, zu dessen kurzfristigem Gewinn mit, für den er später zahlen muss.
Kompetenz, sagte der Ältere. Es wäre besser, alles den Fachleuten zu überlassen.
O weh, Lucilius. Ich hielt, innerlich errötend, den Atem an, da ich fürchtete, zitiert zu werden mit dem stolzen Satz von mir: Über Dinge von Rang muss ein Geist von Rang entscheiden. Dabei dachte ich natürlich an mich selbst, wen sonst. Gottlob hielt sich der Kompetente allein für kompetent genug, dass er eines Autoritätsbeweises