Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer

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publizistischen Interventionen – theoretisch der Zeitlage anzupassen und praktisch zu festigen, indem sie ihm über seine bisherige Verankerung im Adel hinaus neue Trägerschichten erschlossen, sei es im Bürgertum, im Handwerk, im Bauerntum oder der städtischen und ländlichen Arbeiterschaft. Manche, wie Stahl, zögerten nicht, »jenen großen Gewinn unseres öffentlichen Zustandes« anzuerkennen, »der sich von der Epoche 1789 an datirt«, und rückten den Konservatismus an den Liberalismus.24 Sie ebneten damit den Weg für konservativ-liberale Hybridbildungen, denen auf liberaler Seite ähnliche Bestrebungen in Richtung einer Assimilierung konservativer Elemente entsprachen.25 Andere, wie Hermann Wagener, warben um das von den Fortschritten der Industrie gefährdete Handwerkertum und setzten sich frühzeitig für das allgemeine Wahlrecht ein, während wieder andere sich der Kleinbauern und Landarbeiter annahmen oder das neue Feld der Sozialpolitik entdeckten, von dem die Liberalen nichts wissen wollten. Gewiß waren die Motive, in diesen Richtungen tätig zu werden, nicht primär philanthropischer Natur. In diesem Punkt ist Kondylis recht zu geben, auch wenn die von ihm angegebenen ökonomischen Motive durch die Notwendigkeit zu ergänzen sind, sich auf einem neu entstehenden politischen Massenmarkt zu behaupten, der, je länger, je mehr, zu Ungunsten der konservativen Parteien wirkte.26 Darüber hinaus war die angestrebte Inklusion von Anfang an mit massiven Exklusionen verbunden, die sich gegen religiöse und ethnische Minderheiten richteten, nicht nur, aber in besonders aggressiver Weise, gegen Juden.

      Eine Darstellung indessen, die nur hiervon handelt und dafür einen generellen ›Antimodernismus‹ verantwortlich macht, wird den Widersprüchen nicht gerecht, die für alle großen politischen Ideologien charakteristisch sind. Der ausgehende Konservatismus mag alle Vorwürfe verdienen, die an seine Adresse gerichtet wurden. Ihn darauf zu reduzieren, hieße die Bedeutung zu ignorieren, die einige seiner Verfechter im Vorfeld der im Fin de siècle einsetzenden »Umverteilungsrevolution« gehabt haben, formulierten sie doch schon den den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts Vorschläge, wie durch Steuerreformen, den Aufbau von Institutionen der sozialen Sicherung sowie die Einrichtung von Formen der kollektiven Interessenvertretung der Lohnabhängigen die sozialen Spannungen, wenn nicht beseitigt, so doch verringert werden konnten.27 Das alles mag als Mittel für gänzlich andere Zwecke gedacht worden sein. Daß es geschehen ist und diese Resultate hinterlassen hat, gehört zu jenen eigentümlichen ›Paradoxien der Wirkung gegenüber dem Wollen‹, für die Max Weber den Blick geschärft hat.28

      Zur Zitierweise: Um das Literaturverzeichnis zu entlasten, werden dort nur die häufig zitierten Hauptwerke der Primär- und Sekundärliteratur ausgewiesen. Das übrige Schrifttum wird mit vollen bibliographischen Angaben im Anmerkungsapparat nachgewiesen, bei wiederholter Bezugnahme innerhalb eines Kapitels nur in Kurzzitation. Hervorhebungen im Original wurden nur in Ausnahmefällen übernommen, eigene als solche markiert.

      1.Den Konservatismus denken: Karl Mannheim und Panajotis Kondylis

      Mit Blick auf die breite Literatur, die sich um eine Klärung der Begriffe »konservativ« bzw. »Konservatismus« bemüht, hat man mit Recht von einer babylonischen Sprachverwirrung gesprochen.1 Den Gang der Diskussion nachzuvollziehen, würde ein eigenes Buch erfordern. Für die hier verfolgten Zwecke muß es genügen, sich auf die beiden Deutungen zu konzentrieren, die Höchstrelevanz beanspruchen können: die Bücher von Karl Mannheim (1893–1947) und Panajotis Kondylis (1943–1998). Mannheim hat sein Werk 1925 in Heidelberg als Habilitationsschrift eingereicht, konnte aber zu Lebzeiten nur einen etwa die Hälfte des Textes umfassenden Auszug im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlichen. Die vollständige Fassung erschien erst 1984 in einer von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr besorgten Edition.2 Zu dieser Zeit arbeitete Kondylis bereits an seinem Artikel über »Reaktion, Restauration« für die Enzyklopädie Geschichtliche Grundbegriffe sowie an seinem eigenen Buch Konservativismus, so daß er auf Mannheims Arbeit nur in der gekürzten Fassung Bezug nehmen konnte.3 Was er zu ihr zu bemerken hatte, ist indessen so knapp gehalten4, daß die Gemeinsamkeiten und Differenzen nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Eine weiter ausholende Präsentation der beiden Argumentationsstränge ist daher unumgänglich.

      I.

      Von dem, was landläufig unter »Konservatismus« verstanden wird5, setzt sich Mannheim durch drei Entscheidungen ab. Konservatismus erschöpft sich für ihn, erstens, nicht in der allgemein menschlichen Neigung zum Festhalten am Gewohnten und zur Reserve gegenüber Neuerungen – eine Neigung, die Mannheim als »vegetativ« und »reaktiv« qualifiziert und in Anlehnung an Max Weber als »Traditionalismus« bezeichnet.6 Während bei Weber dieser Terminus eine erhebliche Schwingungsweite aufweist und dadurch andere Perspektiven eröffnet – traditional bestimmtes Verhalten steht einerseits »ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein ›sinnhaft‹ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann«, andererseits diesseits dieser Grenze, etwa wenn es um »traditionale Herrschaft« geht7 – wird er von Mannheim eindeutig auf der Seite des nicht sinnhaften Handelns plaziert und vom Konservatismus abgegrenzt. »›Konservatives‹ Handeln ist sinnorientiertes Handeln und zwar orientiert an einem Sinnzusammenhange, der von Epoche zu Epoche, von einer historischen Phase zur anderen verschiedene objektive Gehalte enthält und sich stets abwandelt.«8

      Die zweite Entscheidung folgt gleich anschließend an diese Festlegung. Der mit Konservatismus bezeichnete Sinnzusammenhang ist nicht nur als politische Theorie oder Doktrin im engeren Sinne zu verstehen, sondern als ein »objektiv-geistiger Strukturzusammenhang«, in den »auch Zusammengehörigkeiten allgemein weltanschaulicher, gefühlsmäßiger Art« eingeschlossen sind, bis hin zur »Konstituierung einer bestimmten Denkweise«.9 Es sei eine Tatsache, heißt es an anderer Stelle, daß »mit dem interessenmäßigen politischen Konservatismus zugleich ein weltanschaulicher verbunden ist«, daß der Konservative »eben nicht nur sein Interesse« wolle, »sondern zugleich seine Welt, in der sein Interesse heimisch ist«.10 Es ist diese »konservative Weltanschauung«, auf die sich Mannheims eigentliches Interesse richtet.11

      Die dritte Entscheidung besteht in einer strikten Historisierung des Forschungsobjekts. Unter Konservatismus ist nach Mannheim keine allgemein menschliche Abneigung gegen Veränderungen zu verstehen, sondern eine Weltanschauung, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt herausbildete (Ende des 18., anfangs des 19. Jahrhunderts), in Reaktion auf eine vorgängige Weltanschauung entstand (das Weltbild der exakten Naturwissenschaften) und von bestimmten sozialen Schichten getragen wurde (dem Adel und der mit ihm verbundenen ›freischwebenden‹ Intelligenz). Mannheims Buch beschränkt sich auf die Startphase dieses Prozesses, dem auch von anderen so bezeichneten »Altkonservatismus«.12

      Sinnzusammenhang, Strukturzusammenhang, Weltanschauung: das sind Konzepte, die auf die Weltanschauungslehre Wilhelm Diltheys verweisen.13 Tatsächlich hat sich Mannheim in seinen Arbeiten der frühen und mittleren 20er Jahre, in die auch die Konservatismus-Studie fällt, entschieden in die Nachfolge Diltheys gestellt und dessen Werk bescheinigt, auf »eine soziogenetische Kulturerklärung im weitesten Sinn des Wortes« angelegt zu sein.14 Diltheys Verdienst sei es, »in großartigster Weise sowohl in historischen Forschungen wie in methodischen Essays die Verwirklichung einer Durchforschung der geschichtlichen Ideenwelt wie auch der Bewußtseinsstrukturen in Angriff genommen« zu haben.15 Sein Programm, »aus einem Gemeinschaftsbewußtsein, aus einer Weltanschauung heraus die einzelnen Gebilde zu verstehen«, überschreite den Rahmen der Geschichte, sowohl im Sinne der Ereignis- wie der Ideengeschichte, es ziele auf »soziologisch-genetische Sinndeutung« und sei darin, ungeachtet aller Polemik gegen die zeitgenössische Soziologie, Ausgangspunkt für jede nachfolgende, ähnlich ausgerichtete Bestrebung.16

      Von diesem demonstrativen Schulterschluß sollte man sich freilich nicht zu der Annahme verleiten lassen, Mannheim sei ein bloßer Epigone Diltheys.17 Gewiß ist in diesen frühen Texten, bedingt auch durch den Einfluß von Lukács, zu

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