Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer
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Zu dieser Auffassung ist Mannheim später auf Distanz gegangen. In einem vier Jahre später erschienenen Essay zu Ehren Alfred Webers kam er wohl noch einmal auf den Konservatismus zurück, rückte ihn nun aber in eine Phänomenologie des »utopischen Bewußtseins«, in der er als Zwischenstufe zwischen dem orgiastischen Chiliasmus der Wiedertäufer und der liberal-humanitären Idee einerseits, der sozialistisch-kommunistischen Utopie andererseits plaziert war. Läßt man den Widersinn einer Konstruktion beiseite, die »die konservative, in die Wirklichkeit eingesenkte Idee« einem Oberbegriff subordinierte, dessen wichtigstes Bestimmungsmerkmal gerade die Inkongruenz des Bewußtseins »mit dem es umgebenden ›Sein‹« sein sollte48, so fällt vor allem die Relativierung auf, die das utopische Bewußtsein in allen seinen Gestalten erfuhr. Die Gegenwart, heißt es dort, stehe im Zeichen einer »allmähliche[n] Senkung der utopischen Intensität«, eines »Verschwinden[s] des Utopischen in jedweder Gestalt« zugunsten einer fortschreitenden »Spannungslosigkeit«, wenn nicht auf der sozialen, so doch auf der ideellen Ebene.49 Zwar begegne man immer noch Utopikern, Romantikern und Ekstatikern, doch handele es sich dabei um Intellektuelle, Angehörige einer »Dünnschicht«, die gegen eine ubiquitär sich ausbreitende »Sachlichkeit« anzukämpfen hätten.50 Mannheim glaubte es nicht länger ausschließen zu dürfen, daß dieser Prozeß zu einer »völligen Destruktion aller spirituellen Elemente, des Utopischen und des Ideologischen zugleich« führen könnte51, wie Herbert Marcuse dies dreieinhalb Jahrzehnte später für die one-dimensional society behauptete, ließ allerdings auch nicht im Zweifel, welche Folgen dies aus seiner Sicht haben würde: »Das Verschwinden der Utopie bringt eine statische Sachlichkeit zustande, in der der Mensch selbst zur Sache wird.«52 Es lag in der Konsequenz dieser Gedankenführung, wenn in Mannheims letztem großen Buch von Konservatismus nicht mehr die Rede war.53
II.
Was die zuletzt angedeutete Perspektive betrifft, so berührt sie sich in vielem mit Kondylis’ These einer zunehmenden »Antiquiertheit der politischen Begriffe«.54 Aber auch in der Auffassung des Konservatismus finden sich manche Übereinstimmungen. Hier wie dort ein historisch-typisierender Ansatz, darauf ausgerichtet, die »für eine ›Periode‹ relativ stabilen Typenbegriffe […] für die Erklärung und Deutung der Kulturgebilde« herauszuarbeiten und entsprechend den Konservatismus zeitlich und räumlich zu lokalisieren; hier wie dort eine Zurechnung von Denkweisen zu bestimmten Weltanschauungen und Ideologien sozialer Klassen, auch wenn dies im Fall des Konservatismus bei Mannheim zu einem deutlich breiteren Spektrum führt als bei Kondylis; hier wie dort eine ausgesprochen agonale Sicht der zwischen den Klassen waltenden Beziehungen, sowohl auf der Ebene der Interessen wie auf derjenigen der Ideen, die als »geistige Waffen« präsentiert werden.55 Und wenn Mannheim darauf beharrt, den Konservatismus nicht isoliert zu behandeln, sondern als Teil einer »Gesamtsituation«, dann ist es nicht weit zu Kondylis, der ebenfalls großes Gewicht auf die Spannungen und Wechselwirkungen legt, die zwischen dem Konservatismus und seinen jeweiligen Gegenspielern – dem Absolutismus, dem Liberalismus oder der Demokratie – bestehen. Gewiß: Mannheim sieht in dieser Lagerung die Kräfte von Aktion und Reaktion eindeutiger verteilt als Kondylis, der immer wieder davor warnt, den Konservatismus auf bloße Reaktion zu reduzieren. Aber lokalisiert letztlich nicht auch Kondylis die eigentliche Triebkraft der Veränderung im neuzeitlichen Rationalismus, der die Positivierung des Rechts und damit die Trennung von Staat und Gesellschaft vorantreibt? Was schließlich trennt eine Sichtweise, die in diesem Rationalismus die Manifestation einer »weltanschauliche[n] Grundhaltung« erkennt56, von einem Ansatz, der darauf zielt, ›Grundintentionen‹, Stilprinzipien sichtbar zu machen, die im Aufbau der Weltanschauungen und Ideologien wirksam sind?57
Eine erste Abweichung findet sich in der Bestimmung des Verhältnisses von Traditionalismus und Konservatismus. Anders als Mannheim, der dieses Verhältnis als eines zwischen präreflexiven und reflexiven Einstellungen deutet und dies zugleich mit einem zeitlichen Index versieht, weist Kondylis die Annahme zurück, es habe einen »stummen unreflektierten Traditionalismus der vorrevolutionären Zeit« gegeben, von dem sich dann der Konservatismus abgehoben habe.58 Die Behauptung einer solchen »teils unreflektierten teils passiven Billigung herrschender Verhältnisse [sei] historisch unhaltbar bzw. eine rein hermeneutische Fiktion«, die allenfalls insofern ein begrenztes Recht habe, als im 17. und 18. Jahrhundert zeitweise eine gewisse »Müdigkeit des Adels nach seinen Niederlagen im Kampfe gegen den Absolutismus« zu verzeichnen sei.59 Zuvor jedoch, und dann wieder verstärkt zur Zeit der französischen Fronde und der prérévolution, habe es eine höchst bewußte, z. T. dezidiert an Aristoteles und Thomas von Aquin anknüpfende Verteidigung der überlieferten Strukturen der alteuropäischen Herrschaftswelt gegeben, und zwar sowohl von Seiten einzelner Autoren wie der Spätscholastiker oder der Monarchomachen, als auch von Seiten der dazu legitimierten Institutionen wie der Ständeversammlungen und vormodernen Parlamente.60
Diese Verteidigung aber, so der zweite Punkt, mit dem Kondylis andere Akzente setzt, reagierte auf eine Herausforderung, die nicht erst auf das späte 18. Jahrhundert datiert. Sie ergab sich durch das Aufkommen der modernen Souveränitätsidee und einer entsprechenden Praxis, in deren Gefolge sich die Politik aus ihrer Bindung an Religion und Ethik sowie an die herkömmlichen leges fundamentales löste und das Recht sich aus einer mit Sitte und Brauch identischen, ontologisch verbürgten Größe in eine zweckrational konzipierte und jederzeit in ihrem Bestand revidierbare Ordnung verwandelte. Auf diese Weise wurde die alteuropäische societas civilis, die in politischer Hinsicht polyzentrisch war (»wegen des Aufbaus des sozialen Ganzen auf der Grundlage von autonomen Oikoi und Korporationen«), in weltanschaulich-religiöser Hinsicht dagegen »monistisch«, auf den Kopf gestellt, war doch der vom entstehenden Absolutismus durchgesetzte Gesetzgebungsstaat politisch einheitlich und religiösethisch polyzentrisch, nämlich »tolerant«.61
Aus dem Widerstand gegen diese Umkehrung ist nach Kondylis der Konservatismus hervorgegangen, gestützt auf die politisch aktionsfähigen Schichten: den ländlichen, städtischen und höfischen Adel. Sein Ziel war, wenn nicht de jure, so doch de facto, die Adelsrepublik, die Sicherstellung der Naturwüchsigkeit und strukturellen Unabänderbarkeit der societas civilis62, in der Terminologie Louis Dumonts: des »homo hierarchicus« gegenüber dem »homo aequalis«. Daraus entstand die erste Stufe des Konservatismus, der »antiabsolutistische Konservatismus«, dessen Leitpräferenzen Kondylis folgendermaßen zusammenfaßt: »Priorität der Gruppe gegenüber dem in ihr geborenen und ihr lebenslänglich angehörenden Individuum«; Ausschluß der rechtlichen und politischen Unmittelbarkeit des Einzelnen; Ablehnung des Gleichheitsgedankens und »Verteidigung der Hierarchie sowohl unter den Ständen als auch innerhalb derselben.«63
Die letzte Abweichung ergibt sich unmittelbar aus den beiden anderen. So wie die Revolution des 18. Jahrhunderts in vielem nur eine Radikalisierung des absolutistischen Souveränitätsanspruchs war, war auch der gegenrevolutionäre Konservatismus – die zweite Stufe des Konservatismus – keine parthenogenetische Erscheinung, setzte er doch die Bemühungen des antiabsolutistischen Konservatismus um eine Bewahrung der societas civilis fort. Das geschah freilich unter Bedingungen, die es erforderlich machten, die Strategie neu zu justieren. Um die von der Revolution noch weit grundsätzlicher als vom Absolutismus negierte societas civilis zu verteidigen, entschloß sich der Adel, die vom modernen Staat bereitgestellten Zwangsmittel zunächst zu übernehmen und gegen den radikaleren Gegner zu wenden.64 Unter Umständen konnte dies die Errichtung oder auch nur die Tolerierung einer Diktatur bedeuten, welche man allerdings (wenn auch nicht immer erfolgreich) auf eine »kommissarische« (im Unterschied zu einer »souveränen«) Diktatur festzulegen bemüht war.65