Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Ausgänge des Konservatismus - Stefan Breuer

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Erkenntnis nicht bloß das erkenntnistheoretische Subjekt, sondern der ›ganze Mensch‹ ist«19 – Topoi, die unzweifelhaft im Denken Diltheys ihre Wurzel haben. Die Konservatismus-Studie kann nachgerade als Entwurf einer Genealogie der Lebensphilosophie gelesen werden, zeigt sich Mannheim doch überzeugt, daß der moderne Lebensbegriff konservativen Ursprungs ist und einen »Erlebniskeim lebendig [hält]«, welcher erstmals in der Romantik auftaucht und alle folgenden Lebensphilosophien bis hin zu Bergson grundiert.20 Auch das diese Studie tragende Konzept des »Weltwollens« steht in deutlicher Kontinuität zu Diltheys (seinerseits auf Schopenhauer rekurrierendem) voluntaristischem Bewußtseinsmodell, demzufolge die Ausbildung der Weltanschauungen bestimmt ist »von dem Willen zur Festigkeit des Weltbildes, der Lebenswürdigung, der Willensleitung, der aus dem […] Grundzug der Stufenfolge in der psychischen Entwicklung sich ergibt«.21 Gleichwohl: zu jenem extremen »Perspektivismus«, dem sich Mannheim, womöglich unter dem Einfluß Nietzsches, verschreibt, hat Dilthey stets Distanz gehalten, beharrte er doch darauf, den »Quellpunkt des Lebens und der Wirklichkeit zu erweitern, für objektive Erkenntnis tauglich zu machen«.22 Dazu bedurfte es der Überschau, bedurfte es der Synthese und als Mittel dazu: der Allgemeinbegriffe und Idealisierungen, wie sie, wie immer auch psychologisch verkürzt, in Diltheys »Typologie der Weltanschauungen« vorliegen. Mannheim hat diese zwar nicht schlechterdings abgelehnt, ihr aber vorgeworfen, bloß flächenhaft, schematisch und unhistorisch zu sein und letztlich in eine »Auflösung der einmaligen Weltanschauungskomplexe« zu münden.23

      Mit der Ablehnung der generalisierenden Abstraktion geht Mannheim auch zu jenen Strömungen in der Soziologie auf Distanz, die er dem »neuzeitliche[n] Rationalismus« zuordnet24: der »reinen Soziologie« Georg Simmels und der »generalisierenden Soziologie« Max Webers.25 Einen Terminus Alfred Webers aufgreifend und diesen gegen dessen Bruder Max wendend, spricht Mannheim von einem ›zivilisatorischen Denken‹, das auf ein »Hineinprojizieren des Zweckrationalen in alle vergangenen Zustände« hinauslaufe und die Soziologie in ein »Pendant zu den rationalen überkonjunktiven Naturwissenschaften« verwandle.26 Ihr setzt er seinen Entwurf einer ›dynamischen Kultursoziologie‹ entgegen, die um den Leitbegriff der »Situation« im Sinne einer singulären, nie identisch wiederkehrenden Ganzheit aufgebaut ist.27 In dem in Rede stehenden Zeitraum ist sie bestimmt durch den Aufstieg des neuzeitlichen Rationalismus, der durch die experimentelle Wissenschaft, den bürokratischen Absolutismus, den modernen Kapitalismus und dessen Träger, das Bürgertum, vorangetrieben wird und zu einer »Entpersönlichung und Entgemeinschaftung« führt, in deren Gefolge »das ›Irrationale‹ (die ursprünglichere Beziehung von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Ding)« marginalisiert wird28: durch eine Zurückdrängung des »Lebendigen« auf die Intimbeziehungen sowie auf jene Schichten und Gruppen, die eher Opfer als Träger des Rationalisierungsprozesses sind: den Adel, die Bauern, die mit dem Handwerk in Kontinuität stehenden kleinbürgerlichen Schichten, endlich auch die religiösen Sekten, soweit sie (wie etwa der Pietismus) Traditionen bewahren, die im Lebensstil der modernen Gesellschaftsklassen keinen Platz mehr haben.29

      Im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution verdichtet und beschleunigt sich dieser Vorgang derart, daß sich erstmals eine Abwehrfront bildet: nicht nur, aber besonders ausgeprägt in Deutschland. Die Abwehr manifestiert sich auf zwei Ebenen: einer vortheoretischerlebnismäßigen, auf der sich eine konservative »Grundintention« oder auch, wie Mannheim mit Schopenhauer und Dilthey sagt, »Grundstimmung« herausbildet, und einer bewußt-reflexiven, die sich durch die Entwicklung eines eigenen »theoretischen Zentrums« auszeichnet.30 Zur Grundintention rechnet Mannheim jene Dispositionen, die nicht bloß traditionaler Art sind, sondern aus der bestimmten Negation zentraler Aspekte des Rationalisierungsprozesses entspringen. Dazu gehört das emphatische Erleben des »Konkreten«, das dem durch die Aufklärung gesteigerten Abstraktionsvermögen und der Erweiterung des Möglichkeitsspielraums entgegengesetzt wird, gehört die Verklärung des Eigentums, der Vergangenheit und der Geschichte sowie das Ausspielen des ›raumhaften Erlebens‹ gegen das lineare Fortschrittsbewußtsein der bürgerlichen Schichten. Unübersehbar ist hier allerdings der Widerspruch, daß alle diese Formen konservativen Erlebens bestimmte Negationen und damit Ergebnisse von Reflexion sind31, zugleich aber das Gegenteil davon sein sollen: definiert Mannheim doch die Grundintention als eine »Strebensrichtung der Seele«, welche »im unbewußten Denkwollen« verankert sei.32

      Dieser Widerspruch ist um so fataler, als er das Fundament der idealtypischen Entwicklungskonstruktion betrifft, die Mannheim für das altkonservative Bewußtsein entwirft. Dieses entfaltet sich in drei Stufen. Am Anfang steht eine Aktivierung des altständischen Bewußtseins in Form des »Urkonservatismus« (repräsentiert durch Justus Möser), der seine politische Spitze gegen den aufklärerisch-bürokratischen Zentralismus richtet.33 Ihm folgt der »romantisierte[n] Konservatismus«, der seine Impulse nicht mehr allein aus der Gegenstellung gegen den bürokratischen Rationalismus bezieht, sondern zugleich aus der Reaktion gegen Aufklärung und Revolution.34 Sozialer Träger dieser romantischen Reaktion ist eine Schicht, die Mannheim in Anlehnung an Alfred Weber als ›sozial freischwebende Intellektuelle‹ bezeichnet.35 Eine dritte Stufe im »konservativ-dynamischen Denken« soll schließlich in der von Hegel entwickelten »Dialektik« vorliegen.36

      Ausgeführt hat Mannheim nur die beiden ersten Stufen und auch hier nur deshalb eine gewisse Evidenz erzielt, weil er sich ausschließlich auf das gemeinsame Moment – die Negation des neuzeitlichen Naturrechts – beschränkt und die fundamentalen Differenzen ausblendet, die das altständische Denken von jenem ›subjektivierten Occasionalismus‹ trennen, den Carl Schmitt nur wenige Jahre zuvor als das zentrale Merkmal der politischen Romantik und zugleich als den Grund für deren nahezu beliebige politische Anschlußfähigkeit herausgearbeitet hatte.37 Ob das zutrifft, sei hier dahingestellt, doch fällt auf, daß Mannheim aus heutiger Sicht den Beitrag der Romantik stark überzeichnet und demgegenüber Vertreter des gegenrevolutionären Konservatismus wie die Brüder Gerlach vernachlässigt, die weit mehr von Theoretikern der Restauration wie Haller beeinflußt waren, auch wenn sie sich in ihrer Jugend romantischen Impulsen nicht verschlossen.38 Daß das geplante Kapitel über Hegel nicht zur Ausführung gelangte, dürfte schließlich nicht nur äußere Gründe gehabt haben. Denn obschon Hegel in seinen jungen Jahren Ansichten vertrat, die in mancher Hinsicht »eine Übernahme, Modifizierung oder Weiterentwicklung von Gemeinplätzen adliger-konservativer Kritik am frühen Kapitalismus« waren39, brach er mit diesen doch bald und stellte sich, wenn auch mit gewissen Vorbehalten, auf den Boden der Moderne. In seiner Phänomenologie des Geistes lehrte er den »Glauben an die Allmacht des Wissens«, in seiner Rechtsphilosophie die Trennung von Staat und Gesellschaft, in seiner Geschichtsphilosophie die Durchsetzung des Prinzips der Freiheit des Willens gegen das vorhandene Recht, die mit der Französischen Revolution vollzogen worden sei.40 Kaum überbietbar war endlich die wechselseitige Abneigung, die Hegel und die Romantiker einander entgegenbrachten. War für Hegel die Romantik, zumal die romantische Ironie, ein Exzeß der »leeren Subjektivität« Fichtes41, so meinte Friedrich Schlegel vom System Hegels, es verwechsele in seiner atheistischen Spitzfindigkeit und im Unwesen seines allumfassenden Rationalismus den Satan mit dem lieben Gott.42 Es mag sein, daß Hegels klassizistisch verengter Blick ihn blind machte für die Ansätze zur Autonomisierung des Ästhetischen in der Romantik43, doch wird er damit noch nicht zu einem Vertreter der Anti- oder Gegenmoderne. Seine Dialektik in eine Entwicklungsreihe zu stellen, die mit Justus Möser einsetzt und über Friedrich Schlegel und Adam Müller bis zu Nietzsche und Bergson führt44, ist so abwegig wie nur irgendetwas.

      Mannheims Entscheidung, seine Entwicklungskonstruktion auf Hegel zulaufen zu lassen, ist freilich nicht so zu verstehen, als habe er damit die Geschichte des Konservatismus als abgeschlossen betrachtet. Zwar stellt er es für ›historisch-dynamische Strukturzusammenhänge‹, zu denen er auch den Konservatismus zählt, als wesentlich heraus, daß sie in der Zeit einmal beginnen, in der Zeit ihr Schicksal haben und in ihr enden.45 Doch relativiert er diesen Gedanken für den Konservatismus gleich wieder. Auch wenn die alten Lebensformen unter dem Druck der kapitalistischen Rationalisierung

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